Streichquartett D-Dur, KV 575 („Preußisches Quartett“ Nr. 1) | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Wolfgang Amadeus Mozart

Streichquartett D-Dur, KV 575 („Preußisches Quartett“ Nr. 1)

Quartett D-Dur für zwei Violinen, Viola und Violoncello, KV 575

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 1363

Satzbezeichnungen

1. Allegretto

2. Andante

3. Menuetto. Allegretto

4. Allegretto

Erläuterungen

Text 2013

„Mozart hat in seinem Leben nie mehr als 10 Minuten Zeit gehabt, um darüber nachzudenken, wie schlecht alles ist.“ Davon war Hans Werner Henze überzeugt, der Altmeister der Neuen Musik in Deutschland. Henze irrte: In Mozarts letzten Lebensjahren nahmen die materiellen Sorgen so überhand, dass seine schier unerschöpfliche Inspiration fast zum Erliegen kam. Die mühevolle Entstehung der so genannten „Preußischen Quartette“ ist dafür ein Musterbeispiel.

Komponiert wurden sie 1789 und 1790 unter deprimierenden Umständen. Ständig musste sich Mozart von seinem Logenbruder Michael Puchberg hohe Summen borgen, um finanziell über die Runden zu kommen. Der Zusammenbruch des Wiener Konzertlebens durch den sinnlosen Türkenkrieg Kaiser Josephs II. und eine viel zu kostspielige Reise nach Berlin hatten den Komponisten in die roten Zahlen getrieben – vielleicht auch seine Spielschulden, über die in der Mozartforschung bis heute spekuliert wird.

Besagte Reise nach Berlin trug seinen drei letzten Streichquartetten den Beinamen „Preußische Quartette“ ein, weil sie angeblich vom Preußenkönig Friedrich Wilhelm II. in Auftrag gegeben wurden. Der Neffe und Nachfolger Friedrichs des Großen war ein leidenschaftlicher Cellospieler, der sich von Luigi Boccherini regelmäßig Quartette und Quintette mit virtuosem Cellopart nach Berlin schicken ließ. Auch Joseph Haydn und dessen Schüler Ignaz Pleyel hatten sich nach der Thronbesteigung des Hohenzollern 1786 beeilt, dem neuen König mit je einem Zyklus „Preußischer Quartette“ zu huldigen.

Mozart war – wieder einmal – spät dran, als er im Juni 1789 ein neues Streichquartett in D-Dur vollendete und in seinem Werkverzeichnis dazu vermerkte: Ein Quartett für 2 violin, viola et violoncello. Für Seine Mayestätt dem könig in Preussen. Aufgrund dieses Eintrags ging die Mozartforschung lange Zeit davon aus, dass tatsächlich ein formeller Auftrag des Königs über dieses Quartett und seine beiden Schwesterwerke vorlag. Schaut man aber genauer hin, erweist sich dieser angebliche Auftrag wohl als Mozartsches Wunschdenken. Tatsächlich erhielt der Komponist vom König nicht einmal Audienz, als er am 19. Mai 1789 in Berlin eintraf. Kurzerhand delegierte Friedrich Wilhelm II. das Audienzansuchen des prominenten Musikers aus Wien an seinen Kammermusikdirektor Duport. Der Franzose wusste den Auftritt des lästigen Konkurrenten zu verhindern, obwohl Mozart sich mit Klaviervariationen über ein Duportsches Thema bei ihm einzuschmeicheln versuchte. Sein Ziel, im Berliner Schloss vor dem König zu spielen, hat er nicht erreicht. Nur die Königin scheint ihn empfangen zu haben, offenbar in Schloss Monbijou.

Die so genannten „Preußischen Quartette“ sind also weit weniger preußisch, als es scheint. Die einzige erkennbare Spur, die der Preußenkönig in den Stücken hinterlassen hat, ist die prominente des Violoncellos. Im ganzen ersten Quartett KV 575 und in der ersten Hälfte des zweiten KV 589 tritt es gleichberechtigt der ersten Geige gegenüber – für Mozart im Streichquartett ein Novum. Freilich hatte er schon in den beiden Jahren zuvor im C-Dur-Streichquintett KV 515 und im Es-Dur-Streichtrio KV 563 das Cello auffallend virtuos behandelt, denn er musizierte in jenen Jahren mit ausgesprochenen Cellovirtuosen wie Anton Kraft aus Esterháza oder dem Wiener Cellisten Joseph Orsler. Sie haben seine Behandlung des Instruments in der Kammermusik sehr viel direkter beeinflusst als der Cello spielende Preußenkönig.

Die Entstehungsgeschichte der „Preußischen Quartette“ lässt sich heute, auch anhand der Originalpartitur, folgendermaßen rekonstruieren: Offenbar wollte Mozart nach der Rückkehr aus Berlin von sich aus, ohne ausdrücklichen Auftrag des Monarchen, drei Quartette für den König von Preußen schreiben. Das erste vollendete er zügig im Juni 1789, mitten im zweiten geriet sein Elan ins Stocken. Noch Monate später, im Frühjahr 1790, klagte er in einem Brief an Puchberg: „Wenn Sie wüssten, was mir das alles für Kummer und Sorgen macht – es hat mich die ganze Zeit her verhindert meine Quartetten zu endigen.“ Erst im Mai 1790 trug er das zweite Quartett als vollendet in sein Werkverzeichnis ein, im Juni das dritte.
Seinen Geldgeber Puchberg lud er zur Uraufführung ein: „Künftigen Samstag bin ich Willens meine Quartetten bey mir zu machen, wozu ich sie und ihre Fr: Gemahlin schönstens einlade.“ Der finanzielle Gewinn aber, den er sich von der Drucklegung der drei Werke versprochen hatte, fiel denkbar mager aus: „Nun bin ich gezwungen, meine Quartetten (diese mühsame Arbeit) um ein Spottgeld herzugeben, nur um in meinen Umständen Geld in die Hände zu bekommen“, schrieb er an Puchberg. Tatsächlich sind die drei Quartette im Wiener Verlag Artaria erst Ende Dezember 1791 erschienen – ohne Widmung an den König von Preußen und drei Wochen nach Mozarts Tod.

Unter den drei Quartetten ist das erste in D-Dur das gesanglichste: ein durchweg lyrisches Stück ohne heftige Gefühlsausbrüche, vielleicht mit Rücksicht auf den „galanten Stil“, wie er am preußischen Hof damals immer noch herrschte. Allein drei Sätze stehen im Allegretto-Tempo, Kopfsatz und Finale außerdem im Alla breve-Takt. Statt des üblichen tänzerischen Kehraus-Finales schrieb Mozart einen heiter singenden Schluss, statt eines Allegro maestoso zu Beginn, wie sonst in seinen D-Dur-Stücken, einen gesanglichen Dialog der vier Streichinstrumente.

Das Hauptthema des ersten Satzes wirkt so schlicht wie möglich: ein leise aufsteigender D-Dur-Dreiklang der ersten Geige, gefolgt von ruhig absinkenden Terzen und einer Arabeske im punktierten Rhythmus. Die Viola übernimmt dieses Thema, bevor alle vier Instrumente ein neues Motiv im Tanzrhythmus einer Gavotte anstimmen. Dieses kleine Motiv mit Triller und die Arabeske aus dem Hauptthema dienen als rhythmischer Motor des Satzes, während sich die Bewegung dazwischen immer wieder beruhigt und zu den Dreiklängen des Hauptthemas zurückkehrt. Im Seitenthema, einem schönen Gesang des Cellos, der von allen drei Partnern nacheinander aufgegriffen wird, hat Mozart das Ideal des Streichquartetts als „Gespräch unter vier vernünftigen Leuten“ vollkommen verwirklicht. Der gesamte Satz wirkt wie ein beredter Gedankenaustausch unter vier heiteren Gesprächspartnern, deren Dialog nur selten von einem Anflug leiser Melancholie getrübt wird.

Wenn KV 575 gelegentlich auch das „Frühlingsquartett“ genannt wird, hängt dies mit dem langsamen Satz zusammen: Die Melodie dieses A-Dur-Andante ist eine Variante des populären Mozartliedes Das Veilchen, vom geraden in den Dreiertakt versetzt. Das Lied wiederum geht auf die Arie des Blondchens „Durch Zärtlichkeit und Schmeicheln“ zurück, eine der schönsten Nummern in der Entführung aus dem Serail. Arie und Quartettsatz stehen in der „Frühlingstonart“ A-Dur, wobei Mozart im Streichquartett dem melodischen Zitat aus der Arie ein schönes „sprechendes“ Motiv hat folgen lassen. Zwischen die Außenteile in A-Dur im kompakten vierstimmigen Satz hat er einen Dialog zwischen erster Violine und Cello eingeschoben, ein konzertierendes Element, wie es Mozart in seiner Streicherkammermusik so gerne benutzt hat. Das Veilchen-Thema wird bei seiner Wiederkehr melodisch schön variiert. Die zauberhafte Coda lässt noch einmal kurz den Dialog zwischen erster Geige und Cello anklingen.

Das Menuett im Allegretto-Tempo ist in Wahrheit ein Deutscher Tanz, ein Ahnherr des Wiener Walzers. Durch die Teutschen Tänze, die er ab 1789 in großer Zahl für die Faschingsbälle in den Wiener Redoutensälen schrieb, reihte sich Mozart unter die Väter des Wiener Walzers ein. Hier ist der typische Walzerschwung vom ersten Takt an präsent. Im G-Dur-Trio paart er sich mit dem rustikalen Charakter eines Ländlers. Den Hauptteil des Satzes hat Mozart durch die kompakte Sonatenform mit zwei Themen, Durchführung und Reprise bedeutungsvoll ausgeweitet – ein Charakteristikum der Menuette in allen drei „Preußischen Quartetten“.

Ebenso charakteristisch sind die geweiteten Dimensionen des Finales – kein einfaches Rondo, sondern ein anspruchsvolles „Sonatenrondo“, also eine Kombination aus Rondo- und Sonatenform. Es wird demonstrativ vom Cello eröffnet – mit einem Dreiklangsthema, das die erste Violine aufgreift und harmonisch zum Abschluss bringt. Die ersten beiden Takte dieses Themas sind nichts anderes als eine rhythmische Verkleinerung jener Dreiklänge, mit denen der erste Satz begonnen hat. Im Finale hat Mozart diese Dreiklänge auf wundersame Weise durch die Tonarten und durch die Stimmen geführt. Unruhige Triolen, die sich vom Cello aus über das ganze Ensemble ausbreiten, dienen als Kontrast dazu. Das Seitenthema hat Mozart in Haydnscher Manier aus dem Hauptthema abgeleitet, auch hier dominieren die Dreiklänge. Beide Elemente – die unruhigen Triolen und die ruhigen Dreiklänge – prägen den Satz bis in den letzten Takt hinein, wobei Mozart melodisch auch eine frühe Sinfonie (KV 114) zitiert hat.

Text alt (2008):

Das Streichquartett D-Dur, KV 575, schrieb Mozart 1789 für einen Hohenzollern, obwohl es durch unglückliche Umstände zur geplanten Widmung an denselben letztendlich nicht mehr kam. Im Juni 1789 registrierte er das Werk als vollendet in seinem Werkverzeichnis und nannte es: “ein Quartett für 2 Violin, Viola et Violoncello. für seine Mayestätt dem König in Preußen”. Es entstand noch unter den frischen Eindrücken der Reise ins preußisch-sächsische Ausland, von der sich der Komponist neue Wirkungsmöglichkeiten (und Geldquellen) außerhalb Wiens versprochen hatte. Berlin schien ihm am aussichtsreichsten, spielte König Friedrich Wilhelm II. doch Cello, seine Tochter Klavier. So begann Mozart, für den Monarchen eine Quartettserie, für seine Tochter Klaviersonaten zu schreiben, ohne dass ein förmlicher Auftrag vorgelegen hätte und ohne dass aus einem der beiden Zyklen ein pekuniäres oder moralisches Kapital letztendlich wäre zu schlagen gewesen. Die Erstausgabe der Quartette, im Notentext fehlerhaft genug, erschien erst kurz nach Mozarts Tod und ohne Widmung an den Monarchen. Zustandegekommen war sie, weil der Komponist die drei Quartette, “diese mühsame Arbeit”, wie er sie seinem Logenbruder Puchberg gegenüber nannte, für einen Hungerlohn an den Verleger hatte verkaufen müssen, um Bares in die Hände bekommen. Auch die Entstehung der drei Werke zeugt von dem unglücklichen Stern, unter dem Mozarts Schaffen im Krisenjahr 1789 stand. Nach eineinhalb Quartetten brach Mozart die anfänglich schwungvolle Arbeit im Juni 1789 ab und nahm sie erst im Mai 1790 wieder auf. Die Mühen, von denen er Puchberg schrieb, schlagen sich auch in den Skizzen und den Autographen der Quartette nieder.

Dass die drei Quartette heute dennoch den Beinamen “preußische” tragen, verdanken sie letztendlich einem musikalischen Umstand: sie sind preußisch wegen des Respekts, den sie dem Instrument des “Königs in Preußen”, dem Cello, zollen. Derartige höfliche Verneigungen vor einem Mäzen oder Auftraggeber waren im 18. Jahrhundert durchaus erwünscht. Für Mozart barg das königliche Cello die Chance, den Quartettsatz neu zu überdenken. Statt des kontrapunktisch reichen Dialogs seiner sogennanten “Haydn-Quartette” aus den Jahren 1782-85 benutzte er hier einen aufgelockerten Satz, in dem jeweils ein Instrument konzertierend bzw. gesanglich hervortritt. Dies gestattet auch dem Cello die Loslösung von der Bassfunktion und den “königlichen” Auftritt als primus inter pares.

Im Kopfsatz des D-Dur-Quartetts sind die Gewichte noch gleich verteilt. Das langgezogene kantable Hauptthema der ersten Violine wird von der Bratsche imitiert; im Seitenthema ergreift jedes der vier Instrumente einmal das Wort, in der Durchführung ebenfalls. (Als Material der letzteren dient eine kurze Figur mit Schleifer aus dem Hauptthema, nicht dieses selbst.) Erst im Andante konzentriert sich das melodische Interesse auf das Cello, das mit der ersten Violine ein opernhaftes Duett anstimmt. Als Rahmen ihres Dialogs dient jenes Thema, das man aus Mozarts Goethe-Lied “Das Veilchen”, aber auch aus einer Blondchen-Arie in der “Entführung” kennt und das überhaupt zu den weitestverbreiteten Arienthemen des 18. Jahrhunderts gehörte, ein Topos. Die Anspielung auf die Form eines Vokalduetts, auf Lied und Oper war hier von Mozart durchaus gewollt.

Cellosoli kann man wieder im Trio des Menuetts und zu Beginn des Finales hören. Ein weiteres Merkmal der “Preußischen Quartette”, die Verlagerung des Quartettschwerpunkts vom Kopfsatz auf Menuett und Finale, wird hier deutlich. Der Menuett-Hauptteil ist ungewöhnlich breit ausgeführt, während sich das Finale als besonders subtile Synthese aus Rondo- und Sonatenform erweist, die den Kopfsatz an Komplexität weit übertrifft.