Streichquartett d-Moll, D 810 ("Der Tod und das Mädchen") | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Franz Schubert

Streichquartett d-Moll, D 810 ("Der Tod und das Mädchen")

Quartett Nr. 14 d-Moll für zwei Violinen, Viola und Violoncello, D 810 („Der Tod und das Mädchen“)

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 1723

Satzbezeichnungen

1. Allegro

2. Andante con moto

3. Scherzo. Allegro molto

4. Presto

Erläuterungen

FASSUNG I

Anfang 1824 nahm Franz Schubert eine Gruppe von Kammermusikwerken in Angriff, die wir heute seine „Spätwerke“ nennen, obwohl er damals gerade erst 27 Jahre alt und trotz erster Vorboten seiner Todeskrankheit dem Leben durchaus zugewandt war. Seinen Freund Leopold Kupelwieser, der damals in Rom weilte, ließ er am 31. März 1824 wissen: „An Liedern habe ich wenig Neues gemacht, dagegen versuchte ich mich in mehreren Instrumental-Sachen, denn ich componirte 2 Quartetten für Violinen, Viola und Violoncelle u. ein Octett, u. will noch ein Quartetto schreiben, überhaupt will ich mir auf diese Art den Weg zur grossen Sinfonie bahnen“.

Von den Freunden unbeachtet, gleichsam im Stillen, hatte Schubert damals drei seiner umfangreichsten und großartigsten Werke komponiert: das Oktett, D 803, und die beiden Streichquartette in a und d, D 804 und 810, während das schon geplante dritte Quartett in G, D 887, erst 1826 in Angriff genommen wurde. Die beiden Streichquartette von 1824 nennt man heute gerne unter ihren nicht authentischen Beinamen „Rosamunde“ und „Der Tod und das Mädchen“. Worauf diese populären Konzertführer-Titel hinweisen, ist der Umstand, dass Schubert in den langsamen Sätzen der beiden Quartette Liedthemen aus früheren Werken zitiert hat. Dies gilt auch für das Oktett und ist bezeichnend für Schuberts Weg einer Neugeburt der Kammermusik aus dem Geist des Gesangs. Sein Malerfreund Moritz von Schwind meinte, die neuen Streichquartette seien „von der Art, daß einem Melodie bleibt wie von Liedern, ganz Empfindung und ganz ausgesprochen.“

Was zu diesem liedhaften Ausdruck hinzukommt, ist die sinfonisch geweitete Form. Schuberts späte Quartette gehören zu den längsten, die jemals geschrieben wurden. Seine erklärte Absicht, sich in ihnen „den Weg zur großen Sinfonie zu bahnen“, wird überdeutlich an den ungeheuer ausgedehnten Themengruppen, der variierenden Wiederholung der Seitenthemen, den dritten Themen in den Kopfsätzen und an den harmonisch wie kontrapunktisch höchst anspruchsvollen Durchführungen.

All dies weist auf die große C-Dur-Sinfonie von 1825 voraus und setzte für die Kammermusik einen neuen, unerhörten Standard formaler Gestaltung. Auch klanglich und in den technischen Anforderungen besonders an den Primarius, sind diese Quartette in Schuberts eigenem Schaffen und dem der Zeitgenossen ohne Vorbild.

Sie sind das Gegenstück zu den in jenen Jahren begonnenen späten Quartetten Beethovens. Dies ist kein Zufall. Beide – Schubert und Beethoven – haben diese, ihre extremsten Streicherwerke für einen Wiener Quartett-Primarius schrieben, der erst 1823 in seine Heimatstadt zurückgekehrt war: Ignaz Schuppanzigh. Der „Erfinder“ des Quartettabends nahm 1823 seine Konzertreihe in der Donaumetropole wieder auf und setzte damit nicht nur für seinen Freund Beethoven, sondern auch für Schubert das Signal zur Komposition neuer Quartette. Kein Ensemble in der Geschichte des Streichquartetts hat in so kurzer Zeit (1824-1828) eine so bestürzende Fülle an Riesenwerken uraufgeführt, Stücke, die buchstäblich alles bis dahin Gehörte in den Schatten stellten.

Der einzige Wermutstropfen in dem glühenden Einsatz des Geigers Schuppanzigh für „seine“ beiden Komponisten war seine angeblich ablehnende Haltung dem d-Moll-Quartett von Schubert gegenüber. Während er das a-Moll-Quartett und das Oktett in Wien virtuos zur Uraufführung brachte, soll er das d-Moll-Quartett vehement abgelehnt haben; so zumindest berichtet der Schubertfreund Lachner. Dem widersprechen Hinweise auf mehrere erfolgreiche Privataufführungen zu Schuberts Lebzeiten, für die kein anderer als Schuppanzigh in Frage kam. Wie dem auch sei: Öffentlich wurde das d-Moll-Quartett in Wien erst 1849 vom Hellmesberger-Quartett gespielt, obwohl es bereits seit 1831 gedruckt vorlag. In Deutschland war es früher bekannt, was man daran ablesen kann, dass es Schumann bereits 1838 zu Schuberts „besten Kompositionen“ rechnete. Spätestens in den 1860er Jahren war es dann allgemein verbreitet, so dass es nach Lachner „alle Welt entzückte und zu den großartigsten Werken seiner Gattung gezählt“ wurde.

Auf kein anderes Streichquartett passt Felix Mendelssohns Wort von einer „durch den Inhalt von selbst zerschlagenen Form“ besser als auf D 810. Allein die ersten 40 Takte modulieren in zehn verschiedene Tonarten, was dem Wiedereintritt des Hauptthemas eine Wucht ohnegleichen verleiht. Dabei hält der ganze Satz am Hauptgedanken, einer wild dreinfahrenden Triolengeste, mit geradezu fatalistischer Strenge fest. Die Triolen werden auf die gesamte Hauptthemengruppe ausgedehnt und erst vom liedhaften Seitenthema abgelöst, dessen Kopfmotiv wiederum in immer neuen Verwandlungen die Entwicklung bestimmt. Aus kleinsten Einheiten baute Schubert in dieser Weise Motivfelder auf, deren ungeheure innere Spannung aus der Harmonik resultiert. Kompositionstechnisch ist es dieses Verfahren, was dem d-Moll-Quartett seinen Ausnahmerang unter den romantischen Quartetten verleiht.

Inhaltlich ist es der extreme Gegensatz zwischen dem Moll des Hauptthemas und der Dur-Traumwelt des Seitenthemas, welcher den Kopfsatz prägt. Wie die Idyllen des Seitenthemas immer wieder in den Halbschatten eines Dur-Moll geraten, während die Triolen des Hauptthemas sich ihren Weg aus der Tiefe ins grelle Licht unbarmherzig bahnen, um in immer neuen Ausbrüchen zu kulminieren, gehört zu den spannungsvollsten Momenten in der Geschichte des Streichquartetts.

Die Frage, welcher Inhalt hier die Form bis zum Bersten füllt, wird durch das Variationenthema des Andantes beantwortet: Es ist die Musik des Todes aus Schuberts dialogartigem Lied Der Tod und das Mädchen. Liedzitate sind in Schuberts Kammermusik wie eingangs erwähnt nichts Außergewöhnliches, hier jedoch kommt dem Zitat der Rang eines Bekenntnisses zu. Werner Aderhold, der Herausgeber des Quartetts in der Neuen Schubert-Ausgabe, betonte, dass Schubert „nicht nur die entsprechenden Takte für das Thema der Variationen übernahm, sondern das Lied als ganzes, für alle Sätze: motivausschöpfend, gestisch, den schubertschen Topos der Grenzüberschreitung tiefer noch ausdeutend, die dialogische Struktur des Liedes übertragend in die dialektischen Spannungsfelder des Quartetts.“

Die dialektische Spannung, die hier angesprochen wird, ist der Gegensatz zwischen Leben und Tod, Jugend und Vergänglichkeit, den Schubert im Frühjahr 1824 am eigenen Leibe erfuhr. Als sich herausstellte, dass er unheilbar krank war, erhielt seine an sich schon nekromanische Natur zusätzlich Nahrung. Die Themen Tod und Grab, schon in den allerersten Liedern des Gymnasiasten Schubert zu greifen, verfolgten ihn ab 1824 in manischer Weise bis zu seinem Ende 1828.

Der Variationensatz des d-Moll-Quartetts ist dafür ein erschütternder Beleg. Die eisig-stockende Aura der Todesmusik aus seinem eigenen Lied hat Schubert in vier Mollvariationen immer mehr ins Leidenschaftliche gewendet – bis hin zu Fortissimo-Höhepunkten, die in dem fast durchweg leisen Satz grelle Akzente setzen. Wieder ist es die Durvariation, die für ein unwirkliches Idyll sorgt. Hier wie auch sonst im d-Moll-Quartett entsteht die Faszination nicht zuletzt aus der Aura quasi-entrückter, romantischer Klangbilder.

Das Scherzo knüpft einerseits an die Klangballungen des Kopfsatzes an, andererseits nimmt es den gespenstisch-skurrilen Charakter des Totentanzes vorweg, den das Finale weiter ausführt.

FASSUNG II

Das alte Bildmotiv eines jungen Mädchens, dem der Tod in Gestalt eines Gerippes unbarmherzig gegenübertritt, inspirierte Matthias Claudius 1775 zu seinem Gedicht Der Tod und das Mädchen. 42 Jahre später griff der junge Franz Schubert diesen Dialog auf und verlieh ihm die klassische musikalische Fassung in Form seines gleichnamigen Liedes. Dem verzweifelten Flehen des Mädchens treten die starren Akkorde des Sensenmanns gegenüber, die schon im Klaviervorspiel vorweggenommen sind. Wiederum sieben Jahre später griff Schubert dieses Lied auf, als er sein d-Moll-Streichquartett komponierte. Diesem Umstand verdankt das Quartett seinen Beinamen „Der Tod und das Mädchen“, obwohl die Musik des Mädchens darin gar nicht vorkommt. Ausschließlich um die Musik des Todes kreist dieses Werk und zwar in ihrer ganzen erschütternden Breite: vom tröstlichen Dur bis zum fatalistischen Moll.

Schubert wollte sich im März 1824 mit diesem Quartett und seinen beiden Schwesterwerken – dem Rosamunde-Quartett und dem Oktett – den „Weg zur großen Symphonie“ bahnen, wie er seine Freunde wissen ließ. Der Grund zur Komposition war jedoch mindestens ebenso ein ganz persönlicher und existentieller. Er hatte gerade den ersten Schub seiner Todeskrankheit hinter sich, die ihm nur noch vier Jahre zu leben ließ. Vorahnungen seines frühen Sterbens müssen ihn damals gequält haben, er fand sich gleichsam in der Rolle des Mädchens aus dem Claudiuslied wieder. Dies verleiht seinem d-Moll-Quartett die authentische Atmosphäre von Angst. Im ungehemmten Aufruhr der Gefühle, in den ausufernden Formen und den neuen, im wahrsten Sinne des Wortes „unerhörten“ Klängen geht dieses Quartett bis heute jedem Publikum unter die Haut.

Nur einer scheint sich gegen die kompromisslose Härte dieses Werkes gewehrt zu haben: Ignaz Schuppanzigh, der große Wiener Quartettprimarius und Freund Beethovens. Seine Rückkehr in seine Heimatstadt 1823 hatte die Komposition von Schuberts d-Moll- Quartett erst ermöglicht, denn nur Schuppanzigh konnte mit seinem Ensemble ein so modernes, technisch geradezu provokant schweres Werk aus der Taufe heben. Während er dies im Falle von Schuberts Oktett und a-Moll- Quartett unbesehen tat, soll er das d-Moll-Quartett vehement abgelehnt haben; so zumindest berichtet der Schubertfreund Franz Lachner. Dem widersprechen Hinweise auf mehrere erfolgreiche Privataufführungen zu Schuberts Lebzeiten, für die kein anderer als Schuppanzigh in Frage kam.
Öffentlich wurde es in Wien erst 1849 gespielt, wirklich populär erst nach 1860, als es endlich laut Lachner „alle Welt entzückte und zu den großartigsten Werken seiner Gattung gezählt“ wurde.

Im ersten Satz gibt es noch keine Anklänge an das Claudiuslied, wohl aber eine gestische Umsetzung des plötzlich zupackenden Todes, wie sie kein anderer Komponist in dieser Schärfe gewagt hat. Hart, scharfkantig und durch Doppelgriffe brutal gegenwärtig zerreißt das Triolenmotiv des Anfangs die Stille. Es hinterlässt totale Irritation: Die ersten 40 Takte modulieren in zehn verschiedene Tonarten, danach kehrt das Todesmotiv mit einer Wucht ohnegleichen wieder. Der ganze Satz hält an diesem Hauptgedanken mit fatalistischer Strenge fest. Seine Triolen werden erst vom liedhaften Seitenthema abgelöst, dessen Kopfmotiv wiederum in immer neuen Verwandlungen die Entwicklung bestimmt. Der extreme Gegensatz zwischen dem Moll des Hauptthemas und der Dur-Traumwelt des Seitenthemas verleiht dem Satz ein geradezu szenisches Gepräge. Wie die Idyllen des Seitenthemas immer wieder in den Halbschatten eines Dur-Moll geraten, während die Triolen des Hauptthemas sich ihren Weg aus der Tiefe ins grelle Licht bahnen, gehört zu den spannungsvollsten Momenten in der Geschichte des Streichquartetts.

Als Variationenthema für das Andante hat Schubert dann die Musik des Todes aus seinem Claudiuslied verwendet. Obwohl die Stimme des Mädchens aus dem Lied gar nicht vorkommt, scheint ihr Flehen doch in mancher der folgenden Variationen auf. Die dialektische Spannung, die dem Satz zugrundeliegt, ist der Gegensatz zwischen Leben und Tod, Jugend und Vergänglichkeit, den Schubert am eigenen Leibe erfuhr. Die Themen Tod und Grab, schon in den allerersten Liedern des Gymnasiasten greifbar, verfolgten ihn in manischer Weise bis zu seinem Ende 1828. Der Variationensatz des d-Moll-Quartetts ist dafür ein erschütternder Beleg. Die eisig-stockende Aura der Todesmusik wird in vier Mollvariationen immer mehr ins Leidenschaftliche gewendet – bis hin zu Fortissimo-Ausbrüchen, die dem fast durchweg leisen Satz grelle Glanzlichter aufsetzen. Wieder sorgt die Durvariation für ein unwirkliches Idyll.

Das Scherzo knüpft einerseits an die Klangballungen des Kopfsatzes an, andererseits nimmt es den gespenstisch-skurrilen Charakter eines Totentanzes vorweg, den das Finale in monumentaler Weise ausführt. Dazwischen stehen unwirkliche Traumsequenzen wie das ländlerartige D-Dur-Trio.