Quartett | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Heitor Villa-Lobos

Quartett

Quartett für große Flöte, Oboe, Klarinette und Fagott (Rio, 1928)

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 2012

Satzbezeichnungen

1. Allegro non troppo – Meno – Tempo primo – Più mosso

2. Lent – Più mosso – Lent

3. Allegro molto vivace – Allegro meno mosso – Presto

Erläuterungen

Der Brasilianer HEITOR VILLA-LOBOS wurde – wie Carlos Chavéz in Mexiko und Alberto Ginastera in Argentinien – zum Vater der Musik seines Landes. Seine Vita wurde von zwei Polen bestimmt, die das Erwachen der nationalen Musikbewegungen in Südamerika in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts insgesamt kennzeichnen: vom Studium der einheimischen Straßen- und Volksmusik einerseits, von dem Anschluß an die europäische, besonders französische Musik der 20er Jahre andererseits. Der in Rio Geborene lernte auf einer Viola Cellospielen, später Gitarre während zahlloser gemeinsamer Stunden mit den Straßenmusikanten Rios, deren Gesellschaft er seiner Bestimmung zum Mediziner vorzog. Zwischen 18 und 25 führte er ein unstetes Wanderleben in den entlegensten Teilen Brasiliens, wo er Volksmelodien sammelte, aber auch – nach eigenen Angaben – Kannibalen in die Hände fiel, die ihn nur wegen der Schönheit seiner Musik verschonten. 1915 gelang ihm der Durchbruch als Komponist, bis 1922 (Sinfonie über den 1. Weltkrieg) stieg er zu einem der gefeiertsten und umstrittensten Künstler Brasiliens auf.
1923-30 lebte Villa-Lobos in Paris, wo seine Musik die Sensation in Avantgarde-Kreisen, er selbst der gefeierte Arrangeur von Diners “à la brésilienne” war. Nach der Rückkehr in die Heimat 1930 wandelte er sich unter dem Einfluß des nationalistischen Regimes in Brasilien zu einem Künstler mit administrativen Aufgaben (1942 Gründung des Konservatoriums, 1945 der Musikakademie in Rio). Nach dem 2. Weltkrieg führten ihn ständige Reisen nach Paris und in die USA, wo man seinen 70. Geburtstag ebenso feierte wie in Rio oder Sao Paolo.
“Die große Stärke seiner Musik ist ihre Spontaneität… Diese Frische kann den gelehrtesten Hörer wie den naivsten überzeugen, sie bringt ihre Wirkung durch Farbe, rhythmische Energie und die pure Schönheit ihrer Melodien hervor, aber vor allem durch ihre magischen Klangfarben, die selbst in Chor- und Kammermusik den Eindruck orchestraler Brillanz erwecken.” (L. A. Corrêa de Azevedo) Villa-Lobos war einer der fruchtbarsten Komponisten unseres Jahrhunderts: je nach Art der Zählung schrieb er 800 bis 2000 Werke. Die bekanntesten von ihnen sind die Werkzyklen Bachianas Brasileiras Nr. 1-7, eine Huldigung an den von ihm verehrten Johann Sebastian Bach, sowie Choros Nr. 1-14, Stücke, die nach jener Straßenmusik benannt sind, die Villa-Lobos in seiner Jugend kennenlernte.
Das Bläserquartett schrieb Villa-Lobos 1928 in Rio. Es besteht aus drei Sätzen; die ersten beiden stehen in dreiteiliger Liedform, der letzte ist zweiteilig angelegt. Durch seinen Reichtum an kontrapunktischen Feinheiten und seine Neigung zur Chromatik wirkt auch dieses kurze Werk wie eine Verneigung vor Bach. So wird – nach einem virtuosen Einsteig – gleich das Thema des ersten Satzes von Oboe und Klarinette (später Fagott und Flöte) im Kanon vorgestellt. Als motorischer Kontrapunkt tritt eine Achtelfigur mit Zweierbindungen dazu, die sowohl den Mittelteil als auch die rasante Coda des Satzes bestimmt.
Das weitgespannte Thema das langsamen Satzes entfaltet sich in der Oboe über einem akkordischen “Claire de la lune” der anderen Instrumente; nach dem schnelleren, wiederum chromatischen Mittelteil liegt es bei der Reprise in der Fagottstimme. Die zwei Abschnitte des Finales unterscheiden sich in Tempo, Takt und Charakter voneinander: im ersten, schnelleren Teil stehen sich im Fünfertakt ein viertaktiger Ostinato (Fagott) und ein Achtelmotiv mit Triller (Oberstimmen) gegenüber und werden im doppelten Kontrapunkt verarbeitet. Der zweite, gemäßigte Teil enthält eine Fuge im Vierertakt, gefolgt von einer für Villa-Lobos typischen, wild-motorischen Stretta.