Kantate "Ich habe genug", BWV 82 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Johann Sebastian Bach

Kantate "Ich habe genug", BWV 82

Kantate „Ich habe genug“, BWV 82, zum Sonntag Mariae Reinigung

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 2254

Satzbezeichnungen

1. Aria Ich habe genung

2. Recitativo

3. Aria Schlummert ein

4. Recitativo

5. Aria Ich freue mich auf meinen Tod

Erläuterungen

Als Bach seine Basskantate Ich habe genug schrieb, konnte er nicht mehr auf die freien Formen der älteren deutschen Kirchenkantate zurückgreifen, wie sie z.B. Bruhns verwendet hatte. Seit spätestens 1710 sah eine Cantata im lutherischen Gottesdienst „nicht anders aus als ein Stück aus einer Opera: aus Rezitativen und Arien zusammengesetzt“. So hatte es der Hamburger Pastor Erdmann Neumeister, der „Erfinder“ der modernen deutschen Kirchenkantate, von der poetischen Kanzel herab verkündet.

Auch Bachs Ich habe genug ist aus drei Arien und zwei Rezitativen „zusammengesetzt“. Für den Inhalt der Kantate hat diese Form eine Auslegung des Bibelworts in fünf Schritten zur Konsequenz.
Der Eingangssatz verwandelt das Dictum in eine dramatische Szene: der Gläubige hält, wie Simeon, Jesus auf den Armen und sehnt den Tod herbei. In den beiden Rezitativen wird der Aspekt der Erfüllung im Tod predigthaft vertieft, in den beiden anderen Arien in neue affekthafte Bilder – Schlaf als Todesmetapher und Todesfreude – gekleidet.Der unbekannte Dichter von Bachs Text paraphrasierte zunächst das Nun lässest Du Deinen Diener in Frieden fahren zu dem lakonischen Satz Ich habe genug. (Bei Bach heißt es „Ich habe genung“, was heute meist gesungen wird.) Die Begründung wird gleichsam nachgeschoben: „Ich habe den Heiland, den Herzog der Frommen, auf meine begierigen Arme genommen“. In Bachs Vertonung erkennen wir gleich zu Beginn die wiegenden Bewegungen der „begierigen Arme“ in den Terzfiguren der Streicher. Darüber stimmt die Oboe ihr „Ich habe genug“ an, das der Bass aufgreift. Wie eine Devise steht dieser Satz über der ersten Arie und der gesamten Kantate. Immer wieder rufen Oboe und Bass einander ihr „Ich habe genug“ zu, immer enger verschlingen sie sich in dissonanten Vorhalten, immer bewegter agieren darunter die Streicher, während der Basso continuo unbeirrbar seinen Weg von Bassnote zu Bassnote schreitet. Selbst Bach gelang es kein zweites Mal, die Unruhe eines erregten gläubigen Gemütes im Angesicht der Erlösung mit der Ruhe der Glaubensgewissheit so vollendet musikalisch zu verbinden wie hier. Bei der Stelle „Ich hab ihn erblickt, mein Glaube hat Jesum ans Herze gedrückt“ denkt man unwillkürlich an die Liebesarien der Barockoper. Bachs Überschwang ist hier nicht mehr weit von katholischen Andachtsbildern der Zeit entfernt oder von jener „Unio mystica“, wie sie Bernini in seiner Verzückung der Hl. Theresia dargestellt hat.

Im ersten Rezitativ geht der Gläubige mit Simeon den Schritt vom Erkennen des Erlösers zur Sehnsucht nach dem Tod: „lasst uns mit diesem Manne ziehen,/ ach, möchte mich von meines Leibes Ketten / der Herr erretten“. In der zweiten Arie singt sich der Bass das Schlaflied zum eigenen Sterben: „Schlummert ein, ihr matten Augen, fallet sanft und selig zu“. In der Rondoform der Arie wird der dreimal gesungene Refrain von zwei Couplets unterbrochen, in denen der Gläubige Abschied von der Welt nimmt. Im zweiten Rezitativ ist es dann nur noch ein Schritt bis an den Rand des Grabes. „Ich freue mich auf meinen Tod“ ruft der Bass in der Schlussarie in virtuosen Koloraturen aus, die von der Solooboe und einer Solovioline umspielt werden. Die Todessehnsucht nimmt hier die Form eines ungeduldig drängenden Tanzes an, ein Bild vom Sterben, das uns fremdartig berührt.

Text 2007 (RheinVokal):

Am 2. Februar 1727, zwei Monate vor der Uraufführung der Matthäuspassion, brachte Bach im Frühgottesdienst der Leipziger Nikolaikirche seine Solokantate Ich habe genug zur Uraufführung. Das Fest Mariae Reinigung, das die Katholiken unter dem volkstümlichen Begriff „Mariae Lichtmess“ feiern, hatte im lutherischen Gottesdienst einen ebenso festen Platz wie im Monat darauf Mariae Verkündigung (25. März). An beiden Festtagen ging es den Lutheranern der Bachzeit weniger um die Verehrung der Gottesmutter als um frühe Bestätigungen des Gottessohns in seiner Rolle als Erlöser der Welt. Darum singt der Bass in der ersten Arie von BWV 82:

Ich habe genug,
Ich habe den Heiland, das Hoffen der Frommen,
Auf meine begierigen Arme genommen;
Ich habe genug.

Ich hab ihn erblickt,
Mein Glaube hat Jesum ans Herze gedrückt;
Nun wünsch ich noch heute mit Freuden
Von hinnen zu scheiden.
Ich habe genug.

Bei diesen barocken Arienversen handelt es sich um eine Paraphrase des verbindlichen Schriftworts für den 2. Februar: des Dictum Simeonis aus dem Lukasevangelium. Als der kleine Jesus einen Monat nach der Geburt in den Tempel gebracht wurde, erkannte der fromme, greise Simeon in ihm den Erlöser der Welt und brach in die berühmten ekstatischen Worte aus: „Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren.“ Hier die gesamte Stelle nach dem lutherischen Bibeltext der Bachzeit:

„Und siehe, ein Mensch war zu Jerusalem mit Namen Simeon; und derselbe Mensch war fromm und gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels, und der Heilige Geist war in ihm. Und ihm war eine Antwort geworden von dem Heiligen Geist, er sollte den Tod nicht sehen, er hätte denn zuvor den Christus des Herrn gesehen. Und er kam aus Anregen des Geistes in den Tempel. Und da die Eltern das Kind Jesus in den Tempel brachten, dass sie für ihn täten, wie man pflegt nach dem Gesetz, da nahm er ihn auf seine Arme und lobte Gott und sprach: Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, welchen du bereitet hast vor den Völkern, ein Licht zu erleuchten die Heiden, und zum Preis deines Volkes Israel.“

Von allen Kantaten, die Bach für den 2. Februar geschrieben hat, zeichnet „Ich habe genug“ das Bild des von der Erlösung erfüllten Simeon am eindringlichsten. In der ersten Arie sieht man förmlich, wie der Alte das Jesuskind auf seinen Armen wiegt: Über dem absteigenden Bass mit seinen gleichmäßig gebundenen Achteln wiegen sich die Geigen in Terzen und Sexten. Ihr weich schwingendes Sechzehntelmotiv mit der charakteristischen Synkope durchzieht fast die ganze Arie. Es bildet den Klanggrund für das ekstatische Solo der Oboe, die mit weit ausholenden Fiorituren den ganzen Überschwang der Erlösung in Simeons Worten andeutet. Wenn der Bass einsetzt, greift er das Kopfmotiv der Oboe auf, jene „Exclamatio“ mit der kleinen Sext, wie wir sie auch aus der „Erbarme dich“-Arie der Matthäuspassion kennen. Dieses „Ich habe genug“ steht wie eine Devise über der gesamten Arie. Immer wieder rufen Oboe und Bass einander ihr „Ich habe genug“ zu, immer enger verschlingen sie sich in dissonanten Vorhalten, immer bewegter agieren darunter die Streicher, während der Basso continuo unbeirrbar seinen Weg von Bassnote zu Bassnote geht. Selbst Bach gelang es kein zweites Mal, die Unruhe eines gläubig erregten Gemüts im Angesicht des Heilands mit der Ruhe der Glaubensgewissheit so vollendet zu verbinden wie hier. Am innigsten, geradezu geheimnisvoll wird der Ausdruck bei der Stelle „Ich hab ihn erblickt, mein Glaube hat Jesum ans Herze gedrückt“. Konsequent entsteht daraus die Schlussfolgerung: „nun wünsch ich noch heute mit Freuden von hinnen zu scheiden“. Einzig bei dieser Stelle durchbrach Bach den gleichmäßig wiegenden Duktus, um ein Tor zum Himmel aufzureißen. Daraus erklärt sich auch die eigenwillige Form der Arie: Statt der üblichen Da-Capo-Form schrieb Bach hier eine freie Konzertform aus vier Ritornellen des Orchesters und drei Vokalteilen, wobei nur die zweite Textstrophe wiederholt wird. Ganz offenkundig war ihm der Satz „Ich hab ihn erblickt, mein Glaube hat Jesum ans Herze gedrückt“ der wichtigste. Darin sprach er den Kern seines eigenen Glaubens aus, die Devise seines christozentrischen Weltbildes, das vom Überschwang der barocken Mystik Zeugnis gibt – in dieser Arie schöner als in jeder anderen, die er geschrieben hat.

Auch die restlichen vier Sätze der Kantate halten die Höhe des Eingangssatzes. Im ersten Rezitativ geht der Gläubige mit Simeon den Schritt vom Erkennen des Erlösers zur Sehnsucht nach dem Tod: „lasst uns mit diesem Manne ziehen,/ ach, möchte mich von meines Leibes Ketten / der Herr erretten“. In der zweiten Arie singt sich der Bass das Schlaflied zum eigenen Sterben: „Schlummert ein, ihr matten Augen, fallet sanft und selig zu“. In der Rondoform der Arie wird der dreimal gesungene Refrain von zwei Couplets unterbrochen, in denen der Gläubige Abschied von der Welt nimmt. Es ist ein grimmiger Abschied:

Hier muss ich das Elend bauen,
Aber dort, dort werd‘ ich schauen
Süßen Frieden, stille Ruh‘.

Wie die Musik am Ende dieser Verse tatsächlich zur Ruhe kommt, wie im Rondothema selbst alle synkopischen Motive sanft abwärts gleiten und von gleichsam stiller Emphase durchdrungen sind, das macht auch diese Arie zu einem Klassiker des Bachschen Vokalwerks. Nicht umsonst schrieb Anna Magdalena Bach eine Sopranfassung dieses Stücks in ihr berühmtes Notenbüchlein von 1725. Sie hat die Arie und das vorangehende Rezitativ sicher öfter im Familienkreis und zur eigenen Erbauung am Cembalo gesungen – vielleicht auch als Schlaflied für die Kinder.

Im zweiten Rezitativ ist es nur noch ein Schritt bis an den Rand des Grabes. „Ich freue mich auf meinen Tod“ ruft der Bass in der Schlussarie in virtuosen Koloraturen aus, die von der Solooboe und einer Solovioline umspielt werden. Die Todessehnsucht nimmt hier die Form eines italienischen Konzertsatzes an. Der Satz mutet an wie das Finale eines Bachschen Doppelkonzerts für Oboe und Geige mit einkomponierter Bass-Stimme und wird vom ungeduldigen Tanzrhythmus eines französischen Passepied getragen. Soviel ekstatische Vorfreude auf den Tod ist uns in unserer modernen Abschottung von allen Todesgedanken fremd geworden.

Zur Matthäuspassion steht diese Kantate in einer äußeren und einer vielschichtigen inneren Beziehung. Was Letztere anbelangt, schrieb Hans-Joachim Schulze in seinem Buch Die Bach-Kantaten von 2006, BWV 82 lasse sich „der gedanklichen Vorbereitung“ der großen Passion zuordnen: „mit dem schwärmerisch-ekstatischen Eingangssatz, der „himmlischen Länge“ der Schlummerarie, der zunehmend sich nach innen wendenden Vorfreude des Schlusssatzes“.

Was die rein äußerliche Beziehung zur Matthäuspassion anbelangt, so hat Bach Kantate und Passion für denselben Sänger geschrieben: Der Bass, der in der Matthäuspassion die Jesuspartie und alle Arien des Chorus primus übernahm – also etwa die wundervolle Arie „Mache dich, meine Herze, rein“ – war derselbe, der am 2. Februar die Kantate „Ich habe genug“ aus der Taufe hob: der Leipziger Student Johann Christoph Samuel Lipsius. Ohne diesen Sänger hätte Bach die großen Basspartien seiner Leipziger Kantaten und Passionen nicht schreiben können. Noch 1727 erhielt Lipsius auf Bachs Drängen hin vom Leipziger Rat eine Sondervergütung für seine Mitwirkung bei der Kirchenmusik. Nach dem Ende des Studiums verließ er die Messestadt, um an den Merseburger Hof zu gehen.

Das Ausscheiden von Lipsius aus der Leipziger Kirchenmusik ist auch der Grund dafür, dass Bach die Kantate „Ich habe genug“ in den folgenden zwei Jahrzehnten nie mehr in der originalen Fassung aufführte. Zur Wiederaufführung 1731 transponierte er sie von c-Moll nach e-Moll, ersetzte den Bass durch einen Sopran und die Oboe durch Traversflöte. Wiederum vier Jahre später stellte er zwar die originale c-Moll-Fassung mit Oboe wieder her, wies die Singstimme aber einem „Mezzosoprano“ zu. Erst ganz am Ende seines Lebens, als ihm in seinem zukünftigen Schwiegersohn Johann Christoph Altnickol wieder ein ähnlich fähiger Bass wie Lipsius zur Verfügung stand, führte Bach die Kantate wieder in der ersten Fassung auf, fügte aber dem Mittelsatz drei Oboen hinzu, um den Orchestersatz fülliger zu machen. Daher besitzen wir von diesem Stück allein vier authentische Fassungen, von der zweiten Arie gar fünf.

Dass die Kantate schon im 18. Jahrhundert bei den Bassisten als Paradestück beliebt war, zeigt ein kleiner Ausschnitt aus Bachs Korrespondenz. 1741 schrieb sein Vetter und Privatsekretär Johann Elias Bach an einen Kantor in der Umgebung von Leipzig, ein gewisses „Basso solo“ – sicher BWV 82 – könne leider derzeit nicht ausgeliehen werden, da es sich ein Sänger aus Weißenfels ausgeliehen und noch nicht zurückgegeben habe. Bestimmte Kantaten Bachs waren schon zu seinen Lebzeiten weit verbreitete Repertoirestücke.