Serenade | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Leonard Bernstein

Serenade

Serenade für Violine, Streichorchester, Harfe und Schlagzeug (Klavier) nach Platons “Symposion”

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 255

Satzbezeichnungen

1. Phaedrus: Pausanias (Lento – Allegro marcato)

2. Aristophanes. Allegretto

3. Eryximathus. Presto

4. Agathon. Adagio

5. Socrates: Alcibiades (Molto tenuto – Allegro molto vivace)

Erläuterungen

Obwohl der Werkkatalog Leonard Bernsteins annähernd 100 Kompositionen verzeichnet, sind es nur ganz wenige Stücke, die in das Bewußtsein des Publikums vorgedrungen sind, darunter – neben dem Erfolgsmusical West Side Story – der ein oder andere Song eines weiteren Broadway-Musicals, die liebenswerten Chichester-Psalms und die schwungvoll-optimistische Ouvertüre zu der Operette Candide. Daß sein kompositorisches Schaffen als Ganzes darüber hinaus vergleichsweise wenig Beachtung gefunden hat, mag angesichts der nahezu uneingeschränkten Popularität, der sich Bernstein als Dirigent erfreute, verwundern, hat aber verständliche Gründe auch in diesem Schaffen selbst. Jenseits klar definierbarer Kompositionsströmungen verschrieb sich Bernstein einem Stilpluralismus, der nicht nur die Grenzen zwischen E- und U-Musik verwischte, sondern z. T. auch die herkömmlichen Gattungsbegriffe außer Kraft setzte und damit einer Gesamtschau die gängigen Verständniskategorien entziehen mochte. Dennoch ist ein Großteil seiner Kompositionen, so unterschiedlichen musikalischen Idiomen oder formalen Bestimmungen sie im einzelnen auch folgten, aus einer gemeinsamen Quelle genährt, die die extreme Vielfältigkeit seiner Musiksprache letzlich nicht, wie oft behauptet, als eklektizistisches Kunterbunt, sondern vielmehr als eine homogene künstlerische Kundgabe ganz eigener Ausprägung erscheinen läßt.
Die gemeinsame Quelle des Bernsteinschen Schaffens war das Bedürfnis, mit seinen Werken zentrale gesellschaftliche Probleme des Jahrhunderts zu berühren und in dieser Tendenz zugleich jedermann verständlich zu werden. Daraus resultierte zunächst Bernsteins deutliche Bevorzugung dramatischer Formen, in denen sich der jeweilige Gegenstand für ihn am anschaulichsten und unmittelbarsten darstellen ließ. Insofern können die Ballette, Musicals und Opern als das eigentliche Zentrum seines Schaffens angesehen werden. Daß er zur Verdeutlichung seiner programmatischen Absichten aber auch abstrakt-musikalische Formen immer wieder mit dramatischen Elementen durchsetzte, hat er selbst anläßlich einer Ausgabe der 2. Symphonie nach H. W. Audens Versepos The Age of Anxiety eingestanden: “Ich habe den Verdacht, daß jedes Werk, das ich schreibe, für welches Medium auch immer, in Wirklichkeit in irgendeiner Weise Theatermusik ist”. Deutliche Annäherung an dramatische Elemente zeigt auch Bernsteins 3. Symphonie, in der die dreimalige Vertonung des jüdischen Kaddish-Gebetes von den gesprochenen Monologen eines mit seinem Gott hadernden Gläubigen begleitet wird und damit Züge des Melodramas annimmt.

Neben dieser latent dramatisierenden Tendenz zahlreicher seiner Werke ist es die Bemühung um eine verständliche und publikumsnahe Musiksprache, die ein weiteres gattungsübergreifendes Charakteristikum des Bernsteinschen Schaffens darstellt. Ihr ist nicht nur die weitgehende Wahrung der Tonalität zuzurechnen, sondern vor allem die Adaption jeglicher Form von Musik breitester Aktzeptanz, vom Jazz, über die amerikanische Popmusik, die Hollywood-Filmmusik, die südamerikanische Folklore bis hin zu den beliebten Tanzformen der europäischen Kunstmusik. Dabei ging es Bernstein niemals um die Befriedigung eines oberflächlichen Publikumsbedürfnisses, sondern stets darum, der besonderen Botschaft eines Werkes größtmögliche Plastizität und Lebensnähe zu verleihen. Kennzeichnend hierfür ist sein lebenslängliches Ringen um die große amerikanische Oper, die ein ernstes Thema behandeln, zugleich aber jedermann verständlich sein sollte und der er sich mit Werken wie Trouble in Tahiti, A Quiet Place und Songfest auf je unterschiedliche Weise annäherte. Das damit verfolgte Ziel dürfte er aber dennoch nicht im Bereich der eigentlichen Oper erreicht haben, sondern vielmehr mit seinem Musical West Side Story, das mit der Integration von Gesellschaftskritik und einer trotz unmittelbarer Eingängigkeit differenzierten Tonsprache weit jenseits der vorwiegenden Unterhaltungsideologie gängiger Broadway-Stücke liegt.
Wie die Klarinettensonate gehört auch die Serenade für Solovioline, Streichorchester, Harfe und Schlagzeug zu den wenigen Werken Bernsteins, die auf jede zeitgeschichtliche Anspielung verzichten. (Das 1954 im Teatro La Fenice in venedig von Isaac Stern und dem Israel Philharmonic Orchestra unter Bernstein uraufgeführte Werk erklingt hier im Klavierauszug.) Indessen ist die für Bernstein so typische außermusikalische Bezugnahme in Form eines literarischen Programms präsent, dessen zeitlose Thematik, nämlich die Liebe, den Komponisten zudem zu der ungewöhnlich lyrischen Grundanlage seines Werkes bewegt haben dürfte.

Die Serenade entstand1953 auf Anregung der Lektüre von Platons Symposion, in dem die feierliche Zusammenkunft verschiedener Vertreter der griechischen Intelligenz und deren aufeinanderfolgende Reden zum Lobe der Liebe geschildert werden. Obwohl immer wieder betont wurde, daß das Werk keine Programmusik im eigentlichen Sinne sei, folgt die Serenade bereits in formaler Hinsicht der Platonischen Vorlage minutiös. Mit den Namen der einzelnen Wortführer überschrieben, zeichnen die fünf Sätze nicht nur die Folge der Rednerauftritte nach, sondern charakterisieren zudem jeweils Persönlichkeit des Vortragenden und Inhalt seiner Rede (dabei werden die ersten beiden Redner, Phaedrus und Pausanias, und die letzten beiden, Sokrates und Alkibiades, in jeweils einem Satz behandelt). Aber auch rein technische Mittel, so vor allem das von Bernstein schon in früheren Werken eingesetzte Verfahren der satzübergreifenden motivischen Entwicklung, finden in der Serenade eine im Sinne des Programms passende Anwendung. So erweist sich ein zart-lyrisches Motiv, das gleich zu Beginn des ersten Satzes von der Solovioline angestimmt wird und, in Teilen und unter steter Abänderung, in den meisten der folgenden Sätzen wiederkehrt, als Entsprechung des Grundthemas Liebe, das allen Reden des Symposion gemein ist, aber je unterschiedlich beleuchtet wird. Oder das Anknüpfen eines Redners an vorherige Vorträge findet Ausdruck in der Weiterspinnung bestimmter Motive früherer Sätze. Eine Änderung gegenüber der Platonischen Vorlage nimmt Bernstein jedoch in der Gewichtung der einzelnen Abschnitte vor. Während im Symposion die Rede des Sokrates Zielpunkt aller vorherigen Beiträge ist, verschiebt Bernstein das emotionale Zentrum in der Serenade auf die Rede des Agathon, “denvielleicht bewegendsten Vortrag im Dialog” (Bernstein). Agathon ist ein einfacher Liedsatz, in dem die Solovioline zu der innerhalb des Stückes größten Entfaltung ihrer lyrischen Kapazitäten gelangt. Dennoch verzichtet Bernstein nicht ganz auf eine Andeutung der inneren Intensität der Platonischen Sokrates-Rede. Obwohl er sie, im Symposion der längste Abschnitt, in der Serenade auf eine Art Einleitung zu dem Alkibiades-Abschnitt des letzten Satzes verkürzt, findet sich hier die Passage dichtester Musik der Serenade. Die Stimmen sind in enger Lage und mit voller dynamischer Kraft geführt, bis sie sich in das Schlußrondo entladen, das der fröhlichen Unterbrechung des gelehrten Diskurses durch den Auftritt des betrunkenen Alkibiades und seiner Freunde gewidmet ist und für das Bernstein, trotz der lyrischen Grundhaltung des Stückes, wie so oft zum Jazz greift.