Suite for Cello, op. 72 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Benjamin Britten

Suite for Cello, op. 72

Suite Nr. 1 für Violoncello, op. 72 (1962)

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 2570

Satzbezeichnungen

Canto primo -Fuga – Lamento – Canto secondo – Serenata – Marcia – Canto terzo – Bordone – Moto perpetuo e Canto quarto

Erläuterungen

Kein Komponist hatte den Suiten für Violoncello solo von Johann Sebastian Bach etwas Vergleichbares folgen lassen, bis Benjamin Britten 1964 daran ging, einen ähnlich geschlossenen und kompositorisch dichten Zyklus von Solosuiten für Violoncello zu schreiben.

Über den Adressaten der Bachsuiten gibt es nur Vermutungen, Brittens Inspirationsquelle ist bekannt: Es war Mstislav Rostropowitsch. Der Komponist hatte den russischen Cellisten 1960 in London durch Dmitri Schostakowitsch kennengelernt und sofort Freundschaft mit ihm geschlossen. Nach der Komposition einer Sonate für Cello und Klavier und der Sinfonie für Cello und Orchester schrieb er Ende 1964 in Aldeburgh die erste Suite für Cello solo “per Slava” (so Rostropowitschs Spitzname), noch ohne an eine Fortsetzung zu denken. Den Ausschlag dazu hatte die Uraufführung der Cello-Sinfonie in Moskau am 12. März jenes Jahres gegeben. Die Uraufführung der Solo-Suite spielte der Cellist im Rahmen des von Britten iniziierten Festivals in Aldeburgh am 27. Juni 1964. Dieser Arbeitsrhythmus wiederholte sich bei den beiden anderen Suiten: Nr. 2 wurde im August 1967 in Aldeburgh komponiert und dort im folgenden Sommer uraufgeführt, Nr. 3 im Februar-März 1971 komponiert, aber erst 1974 in Aldeburgh uraufgeführt. Im Gegensatz zu Bach, der in allen sechs seiner Cellosuiten die gleiche Satzfolge verwendete (leicht variiert nur in der sogenannten “Galanterie”, dem leichtesten Tanzsatz) sind die drei Britten-Suiten denkbar unterschiedlich in Dramaturgie und Anlage. Gewisse Satztypen kehren in allen drei Werken wieder: Jedes enthält eine Fuge, mindestens eine quasi-vokale Form (Lamento, Declamato, Dialogo, Recitativo) und ein Genrestück (Marsch, Serenade). Die 2. und 3. Suite schließen jeweils mit einem Ostinatosatz (Chaconne, Passacaglia). Abgesehen von diesen Gemeinsamkeiten aber hat jede ihre unverwechselbare Satzfolge.

Beim Formaufbau muß man Brittens sehr detaillierte musikhistorische Kenntnisse mitbedenken. Er war ein glühender Bach-Verehrer und ein intimer Kenner der englischen Musikgeschichte von Dowland bis Purcell, was sich in einzelnen Sätzen deutlich zeigt. Dennoch wirkt jeder Satz der Suiten spontan-modern. Technisch erweitern sie den Horizont der Bachsuiten um alle Facetten modernen Cellospiels. “Der Komponist packte von Bach bis Debussy, Brahms und Strawinsky eine Fülle von instrumental- und genre-typischen Hinweisen auf die Celloliteratur in seine jeweils 20minütigen Suiten hinein.” (Andrea Dittgen)

Charakteristisch für den Aufbau der ersten Suite sind die vier Canto (Gesang) genannten Sätze, zwischen die jeweils Paare anderer Sätze eingeschoben sind. Es handelt sich um ein immer wiederkehrendes Thema, das die Suite auch beschließt.

Die dazwischengeschalteten Sätze haben jeweils ihr eigenes Prinzip: “das humorvolle Spiel mit zwei Staccatonoten in der Fuge; schmerzliche Lyrik im Lamento, die sich aus dem Konflikt zwischen einem insistierenden Arpeggio in e-Moll und dem Grundton Es ergibt; die modalen Harmonien der Pizzicato-Serenade, die man als Hommage an Debussy verstehen könnte; die Ostinato-Motive der Marcia, die durch ihre Rhythmik Anklänge an Strawinsky suggerieren; die tänzerische Brillanz des Molto Perpetuo-Finale.” (F. R. Tranchefort)