Contrapunctus IX, BWV 1080 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Johann Sebastian Bach

Contrapunctus IX, BWV 1080

Contrapunctus Nr. 9, aus: „Kunst der Fuge“ BWV 1080

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 2931

Satzbezeichnungen

Erläuterungen

KUNST DER FUGE

Seine Vorrede zum Erstdruck der Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach eröffnete Friedrich Wilhelm Marpurg mit folgenden Sätzen: „Wenn ich mich gegen die respektablen Erben des seeligen Herrn Capellmeisters Bach verbindlich gemacht habe, gegenwärtiges Werk mit einer Vorrede zu begleiten: So geschieht dieses mit desto mehrerm Vergnügen, weil ich dadurch Gelegenheit bekomme, meine Hochachtung gegen die Asche dieses berühmten Mannes öffentlich zu erneuern… Ein vortrefflicher Tonkünstler seyn, und die Vorzüge des seel. Bach nicht zu schätzen wißen, ist ein Widerspruch. Es schwebet noch allen, die das Glück gehabt, ihn zu hören, seine erstauenende Fertigkeit im Erfinden und Extemporisiren im Gedächtnis, und sein in allen Tonarten sich ähnlicher glücklicher Vortrag in den schwersten Gängen und Wendungen ist allezeit von den größten Meistern des Griffbretts beneidet worden. Thut man aber einen Blick in seine Scghriften: so könnte man … den Beweiß hernehmen, daß ihn keiner in der tiefen Wissenschaft und Ausübung der Harmonie, ich will sagen in der tiefsinnigen Durcharbeitung sonderbarer, sinnreicher, von der gemeinen Art entfernter und doch dabey natürlichern gedanken übertroffen wird.“
Das Flanders Recorder Quartet tritt im heutigen Konzert gleich in mehrfacher Hinsicht in die von Marpurg so eindringlich beschriebenen Fußstapfen des „seel. Herrn Capellmeisters Bach“, an dessen 250. Todestag sich die Musikwelt vor zwei Monaten erinnerte. Zum einen sind die vier Flötisten aus Flandern selbst „Meister des Griffbretts“ – wenn auch auf der Blockflöte, nicht der Orgel -, die durch ihren „glücklichen Vortrag“ allgemein Bewunderung erregen. Zum anderen haben sie im heutigen Programm durchweg Werke zusammengestellt, die von einer „tiefsinnigen Durcharbeitung sonderbarer, sinnreicher Gedanken“ geprägt sind: kleine Meisterwerke des Kontrapunkts aus der Zeit vor Bach, von Bach selbst und aus unserem Jahrhundert. Kontrapunkte aus der Kunst der Fuge dürfen dabei ebenso wenig fehlen wie die Spielarten des Kontrapunkts in Renaissance und Frühbarock: Chanson und Canzona, Bassvariation und imitatorische Sonate. Auch die Choralbearbeitung ist mit einem Bachstück vertreten. Die Künstler haben ihre kleine Geschichte der Fuge und ihrer Verwandten in sieben Abschnitte gegliedert, denen unser Text folgt.

KUNST DER FUGE I
Bachs kontrapunktisches Spätwerk mit dem posthumen Titel Kunst der Fuge knüpft an die polyphone Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts an. Bereits der einleitende Contrapunctus I offenbart im ruhigen Fluss der vier Stimmen und der durchweg gesanglichen Anlage jeder einzelnen von ihnen den Rückbezug zu den Motetten der Renaissance, an einen polyphonen Satz von absoluter Ausgeglichenheit der Stimmen, wie er etwa von Isaac benutzt wurde. Zu Bachs Zeit war diese Art der Polyphonie altmodisch, aber nicht aus der Mode. Gerade in den 1740er Jahren, in denen Bach sein Alterswerk schrieb, war eine deutliche Tendenz zum „Stile antico“, dem „alten Stil“ der Renaisaance-Polyphonie zu spüren. Kein anderer Komponist freilich widmete diesem Phänomen eine komplette Fugensammlung, wie es Bach tat.

Als er um 1742 begann, sich mit seinem kontrapunktischen Spätwerk über die Möglichkeiten der Fugenkomposition zu beschäftigen, lagen ihm als Vorbilder die Fugen alten und neuen Stils deutscher, spanischer, italienischer, flämischer und österreichischer Kontrapunktmeister vor. Dennoch gewann die Kunst der Fuga, wie das Werk später heißen sollte, unter seinen Händen eine ganz neue Qualität als Demonstrationswerk aller denkbaren kontrapunktischen Künste. Allein der Umstand, dass hier ein einziges Thema und seine Umkehrung in insgesamt 14 Fugen und 4 Kanons verarbeitet wurde (die 14. Fuge ist bekanntlich nicht fertig geworden) und dass jedes dieser Stücke eine andere Form des Kontrapunkts exemplarisch vor Augen führt, belegt Bachs lehrhafte Absicht. Er hat hier gewissermaßen seine Gradus ad parnassum geschrieben – nicht wie Fux als lateinischen Traktat in einem lehrhaften Gespräch zwischen Schüler und Lehrer mit Notenanalysen, sondern als ganz praktische Fugensammlung zum Selbststudium für alle, die diese Kunst zu interpretieren verstanden.

Im Contrapunctus I ist die analytische Anforderung an den Hörer noch relativ gering. Es handelt sich um eine einfache Fuge über das Thema in Grundgestalt, zwar im Palestrinastil gehalten, doch in der Harmonik unverkennbar bachisch. Mit Contrapunctus V beginnen die komplizierteren Fugengattungen zu greifen: Doppelfugen, Tripelfugen und Spiegelfugen, solche im Kontrapunkt der Oktav, der Dezim und Duodezim, mit oder ohne Vergrößerung bzw. Verkleinerung oder beidem. Bei Contrapunctus IX handelt es sich um eine Doppelfuge in der Dezim, d.h. das Grundthema und sein Gegenthema sind sowohl im Oktavanbstand als auch umgekehrt im Dezimenabstand kombinierbar. Zunächst wird das Gegenthema – ein Laufthema von barpcker Motorik – vorgestellt, dann erst erscheint das Grundthema, um die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten unter Beweis zu stellen. Bei alldem bleibt der Satz stets pure Musik von ansteckender Vitalität und typisch bachischer Ausdruckskraft.