Streichquartett Nr. 1 D-Dur op. 11 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Pjotr I. Tschaikowsky

Streichquartett Nr. 1 D-Dur op. 11

Streichquartett Nr. 1 D-Dur op. 11

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer:

Besetzung

Violine I
Violine II
Viola
Violoncello

Satzbezeichnung

Moderato e semplice
Andante cantabile
Scherzo. Allegro non tanto e con fuoco – Trio
Finale. Allegro giusto – Allegro vivace

„Ich sah Tschaikowsky zum ersten Mal 1871 in einer Harmonielehrestunde, die er am Moskauer Konservatorium erteilte. Er war ein nervöser, flinker Mann, nicht sehr groß. Er stürmte in den Unterrichtsraum, die Hände auf dem Rücken, den Kopf leicht vornübergebeugt, und blickte mit starrem und, wie es schien, strengem Blick in den grauen Augen genau geradeaus. Pjotr Iljitsch pflegte, sich sodann ans Klavier zu setzen, unsere Übungen durchzuspielen und … mit raschen und scharfen Strichen unsere Quint- und Oktavparallelen einzuklammern.“

Diese authentische Beschreibung des jungen Tschaikowsky aus dem Jahr seines ersten Streichquartetts verdanken wir dem Geiger Alexej Litwinow. Wie viele andere Studenten am Konservatorium nahm auch er den kultivierten Mann Anfang 30 mit dem stechenden Blick, der ihnen Musiktheorie beibrachte, kaum als Komponisten wahr. Erst im März 1871 stellte sich der junge Tschaikowsky mit einem Konzert aus Liedern, Klavierwerken und Kammermusik in Moskau vor. Eigens zu diesem Anlass schrieb er sein erstes Quartett – das erste bedeutende Streichquartett eines russischen Komponisten überhaupt.

Die Uraufführung im kleinen Saal der Moskauer Adelsgesellschaft wurde von prominenten Musikern gespielt. Als Primarius fungierte der seinerzeit gefeierte Prager Geigenvirtuose Ferdinand Laub, seit 1866 Violinprofessor am Moskauer Konservatorium. Tschaikowsky widmete dem bewunderten Kollegen nach dessen plötzlichem Tod 1875 posthum sein drittes Streichquartett in es-Moll. Als zweiten Geiger hatte Laub seinen Schwiegersohn eingeladen, den aus Pilsen stammenden Jan Hřímalý, auch er Geigenlehrer am Moskauer Konservatorium und nach dem Tod des Schwiegervaters dessen Nachfolger. Hřímalý, den die Russen Grzhimali nannten, spielte nach der Uraufführung des ersten auch die Premieren des zweiten und dritten Tschaikowsky-Quartetts und die Uraufführung von dessen Klaviertrio. Der Bratschenpart wurde von einem Musiker übernommen, den man in Moskau vor allem mit dem Ballett in Verbindung brachte: von dem Wiener Ludwig Minkus. Auch er war Violinprofessor am Konservatorium, vor allem aber Komponist der großen Ballette an der Hofoper des Zaren. In Zusammenarbeit mit dem legendären Choreographen Marius Petipa schuf Minkus um 1870 die ersten Klassiker des russischen Handlungsballetts wie etwa Don Quixote 1871, La Camargo 1872 oder La Bayadère 1877. Auch der Cellist jenes prominenten Streichquartetts war kein Unbekannter: Wilhelm Fitzenhagen, 1848 in Seesen am Harz geboren, war schon mit 22 Jahren als Celloprofessor ans Moskauer Konservatorium berufen worden. Tschaikowsky verehrte den acht Jahre jüngeren Kollegen sehr, lud ihn später immer wieder zu kammermusikalischen Premieren ein, etwa zur Uraufführung des a-Moll-Klaviertrios, und schrieb für ihn 1876 die Rokoko-Variationen.

Es sagt viel über die Wurzeln der so genannten „russischen Geigenschule“ aus, dass zwei Tschechen, ein Wiener und ein Niedersachse das erste Streichquartett von Tschaikowsky aus der Taufe hoben, allesamt Lehrkräfte am damaligen Moskauer Konservatorium. Zu internationalem Ruhm gelangte das Werk durch einen anderen Ausländer, der die russische Geigenschule von Sankt Petersburg aus prägte: Leopold Auer. Der große Ungar nahm das D-Dur-Quartett in sein Repertoire auf, stellte es 1872 in Sankt Petersburg und vier Jahre später in London vor. Die Wirkung dieser Aufführungen war nachhaltig: Schon nach vier Jahren war die Erstausgabe vergriffen, und das Quartett konnte neu aufgelegt werden. Freilich musste der Verleger Jurgenson feststellen, dass nur elf Exemplare von Russen gekauft worden waren, alle anderen gingen ins Ausland. So wenig Interesse fand damals noch die Gattung Streichquartett in Moskau und Sankt Petersburg.

Seinen frühen internationalen Ruhm verdankte Tschaikowskys Opus 11 vor allem seinem langsamen Satz, dem berühmten Andante cantabile, das in zahlreichen Bearbeitungen seinen Siegeszug durch die Salons antrat. Tschaikowsky selbst bearbeitete es für Cello und Streicher, Ferdinand Laub für Violine und Klavier, Karl Klindworth für Klavier solo. Die einfache, ukrainische Volksmelodie vom Anfang dieses Satzes rührte den Dichter Lew Tolstoi zu Tränen, als das Quartett zu seinen Ehren 1876 in Moskau aufgeführt wurde. Aus dem zweiten Thema des Satzes formten amerikanische Arrangeure 1940 einen der größten Hits der Vierziger Jahre: On the Isle of May, gesungen von Connee Boswell („We strolled along through the heavens, and it was June, June on the Isle of May“).

Schon der Anfang des Quartetts muss auf die ersten Zuhörerinnen und Zuhörer bezaubernd gewirkt haben: Kompakte Akkorde im schwungvollen Neunachteltakt, durch Synkopen rhythmisch „gestaut“ und durch die Bordunquint D-A im Cello bewusst volkstümlich eingefärbt bilden das merkwürdig schlichte Hauptthema, wahrhaft ein Moderato e semplice. Das Thema schwillt nur zweimal im crescendo an, ansonsten bleibt es leise und zart, bis kraftvolle Läufe von der zweiten Geige aus die vier Stimmen durchpflügen. Die typische Dramaturgie der ersten Symphoniesätze Tschaikowskys deutet sich hier schon an: Breitflächige Themen mit ausgeprägt russischem Charakter werden durch wild bewegte Überleitungen unterbrochen. Die Entwicklung der Letzteren treibt unausweichlich auf affektive Höhepunkte zu, um anschließend gleichsam auszufransen und dem nächsten Thema Platz zu machen. Hier erklingt nach der wild bewegten Überleitung ein weiteres, akkordisch kompaktes Thema, largamente e cantabile („breit und singend“). Auch hier wirkt der schwingende Neunachtel-Duktus durch eine Synkope volkstümlich, im dritten Takt des Themas kommt es gar zu einem Taktwechsel in den Zwölfachtel. Wie auch im langsamen Satz hat Tschaikowsky versucht, die unregelmäßigen Metren russischer Volksmelodien möglichst getreu nachzuahmen und deshalb zum Mittel des Taktwechsels gegriffen. Das zweite Thema wird anschließend mehrfach wiederholt und von Fiorituren der ersten Geige überlagert, ein Verfahren, das Tschaikowsky den Streichquartetten Schuberts ablauschen konnte. Ein Poco più mosso aus rauschenden Sechzehnteln bildet die Schlussgruppe, rasch gesteigert zu einem Fortissimo sempre con fuoco im Tremolo – ein orchestraler Effekt. In der Durchführung wird der Gegensatz zwischen dem Synkopenrhythmus des Hauptthemas und den nervösen Sechzehnteln der Überleiting weidlich ausgekostet, bis sich die gestaute Spannung in neun Takten Fortissimo sempre entlädt. In einem für Tschaikowsky typischen „dialektischen Umschlag“ verflüchtigt sich danach die Erregung, die Läufe der ersten Geige werden weich und leise, und darunter schleicht sich die Reprise des Hauptthemas ein, dolce, als wäre nichts gewesen. Nach der Reprise entschied sich Tschaikowsky für eine letzte furiose Steigerung: ein Allegro non troppo ma con fuoco, das sich in 22 Takten beständig bis zum Fortissimo steigert und immer schneller wird. Der Satz schließt sempre accellerando.

Die Wirkung des himmlischen Andante cantabile nach diesem erregten Schluss ist kaum zu beschreiben. Die Streicher setzen die Dämpfer auf, und in den unwirklich verschwimmenden Konturen des con sordino erklingt in der ersten Geige ein ukrainisches Volkslied. Angeblich hat der Komponist diese Volksweise einem Zimmermann abgelauscht, der es bei der Arbeit sang, als Tschaikowsky im ukrainischen Kamjanka den Sommer verbrachte. Der Komponist kannte diese Stadt in der Südukraine unter ihrem russischen Namen „Kamenka“. Heute gilt sie wegen ihrer Bedeutung für die Dichtung und Musik der Romantik als „Weimar der Ukraine“. Tschaikowsky erholte sich dort im Sommer 1870 von den Strapazen einer misslungenen Reise in den Westen, die er nur deshalb unternahm, um einen schwer erkrankten Freund auf diversen Kuren zu begleiten. Erst musste er sich im Taunus „schrecklich langweilen“, dann fuhr er nach Mannheim, um dort den Feierlichkeiten zu Beethovens 100. Geburtstag beizuwohnen, wobei ihn die Missa solemnis tief beeindruckte. In Wiesbaden traf er Nikolai Rubinstein, der im Casino „seinen letzten Rubel verspielte“, bevor die russischen Freunde die Stadt fluchtartig verließen, nachdem Frankreich am 19. Juli 1870 Preußen den Krieg erklärt hatte. In Interlaken in der Schweiz verbrachten die Freunde sechs weitere Kurwochen, die den Komponisten durch ihre Atmospähre förmlich „vergifteten“. Aufatmen konnte er erst wieder in Kamenka, was der ukrainischen Weise im ersten Streichquartett eine autobiographische Bedeutung verleiht – wie so vieles bei Tschaikowsky. Ganze 49 Takte überspannt der Bogen dieses schönen Volksliedes, dann kündigen leise Synkopen ein neues Thema an: Aus dem Grundton F der Tonart F-Dur wird die Terz von Des-Dur, das Cello setzt mit einem Ostinato im Pizzicato ein, darüber erhebt sich in der ersten Geige piano e molto espressivo ein weiteres, himmlisch schönes Thema. Es wird über weitere 50 Takte ausgesponnen, bis es im Pianissimo verschwindet und wieder dem ukrainischen Volkslied Platz macht. Später kehrt das zweite Thema noch einmal wieder, nun in B-Dur auf der G-Saite der ersten Geige und vom Pizzicato der übrigen Instrumente getragen. Der Satz klingt so aus, als habe Tschaikowsky das Schneegestöber eines Wintertags in Moskau in Töne fassen wollen.

Das Scherzo zeugt eher vom Glanz der Moskauer Ballsaison. Wieder sorgen Synkopen im Thema für einen Zug ins Volkstümliche. Der d-Moll-Hauptteil ist ein Allegro non tanto e con fuoco, ein nicht zu schnelles, aber feuriges Allegro. Klangeffekte wie der plötzliche Wechsel zwischen lauten und leisen Staccato-Akkorden, die vielen Doppelgriffe und das lange Decrescendo am Ende erinnern unmittelbar an Ballettmusik. Ob der Bratschist der Uraufführung, Ludwig Minkus, angesichts dieser Töne ahnte, dass ihm in Tschaikowksy alsbald ein Konkurrent im Genre des Balletts erwachsen würde? Das Trio klingt so delikat wie ein Orchestertanz, im markierten Abstrich der Oberstimmen über den Wechselnoten des Cellos, und in der ganz leisen Dynamik, die dolccissimo e cantabilie bis zum ppp zurückgeht.

Das Finale beginnt ebenso geradlinig wie alle Sätze dieses Quartetts: mit dem Haupttema im kompakten vierstimmigen Satz. Anfangs leise und schlicht, wird es bald zu größtem Pathos gesteigert. Danach verflüchtigt sich der Klang in ganz zarten Akkorden, die das Seitenthema heranlocken: ein russisches Volkslied in B-Dur, gespielt von der Viola, das freilich nur Episode bleibt. Durchführung und Reprise beschäftigen sich hauptsächlich mit der fallenden Quart aus dem Hauptthema. Nur ein kurzer, leiser Andante-Einschub vor der Coda erinnert an die verträumte Atmosphäre des Seitenthemas. Danach ist kein Halten mehr: Ein Allegro vivace aus orgiastischen Sechzehnteln bildet den furiosen Schluss.