Weichet nur, betrübte Schatten BWV 202 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Johann Sebastian Bach

Weichet nur, betrübte Schatten BWV 202

Weichet nur, betrübte Schatten BWV 202, Hochzeitskantate für Sopran, Oboe und Streicher

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer:

Besetzung

Sopran
Oboe
Violine I
Violine II
Viola
Violoncello
Fagott
Kontrabass
Cembalo

Satzbezeichnung

Aria (Adagio – Andante)
Recit. – Aria (Allegro assai)
Recit. – Aria con Violino solo (Allegro)
Recit. – Aria con Oboe
Recit. – Gavotte

Erläuterung

Hochzeitskantaten waren für den Thomaskantor eine wichtige Einnahmequelle, um sein mageres Salär in städtischen Diensten aufzubessern. Denn schon damals war den vermögenden Leipzigern der „wichtigste Tag des Lebens“ eine stattliche Ausgabe wert – und eine solche war es, wenn man bei Bach und einem Textdichter eine Kantate bestellte und für deren Aufführung bezahlte. Fand die Trauung in der Kirche statt, wurde eine „Trauungskantate“ verlangt, ein aufwendiges geistliches Chorwerk mit Pauken und Trompeten. Handelte es sich um eine Haustrauung, kam nur eine kleiner besetzte „Hochzeitskantate“ in Frage, eine weltliche Cantata für einen bis zwei Sänger und kleines Ensemble. Nur zwei solcher Stücke haben sich von Bach vollständig erhalten (BWV 202, 210), ein drittes fragmentarisch (BWV 216).

Der weitaus größte Teil dieses Repertoires ist heute spurlos verschwunden. Die wunderschöne Soprankantate „Weichet nur, betrübte Schatten“ BWV 202 blieb nur deshalb erhalten, weil der Bachverehrer Johann Peter Kellner im thüringischen Gräfenroda offenbar die Noten davon besaß. 1730 ließ er von seinem dreizehnjährigen Schüler Johannes Ringk eine Abschrift der Partitur anfertigen, die der Knabe minutiös und quasi fehlerlos vornahm. Sie ist heute die einzige erhaltene Quelle zu BWV 202. Bachs Originalpartitur und sämtliche Stimmen sind spurlos verschwunden. Ringks Abschrift aber hat die Zeitläufte unbeschadet überstanden, so dass Bachs Solokantate im Rahmen der Alten Bachausgabe 1862 zum ersten Mal gedruckt werden konnte.

Eine Kantate für Anna Magdalena

Wann BWV 202 entstanden ist, kann man nur vermuten. Gewisse stilistische Eigentümlichkeiten deuten auf die Köthener Jahre 1717 bis 1723 hin, wo Bach das Werk wohl noch nicht als Hochzeits-, sondern als Frühlingskantate geschrieben hat. Liest man nämlich den Text genauer, so stellt man rasch fest, dass es sich um eine Kantate über den Frühling handelt, in die nur gegen Ende einige Segenswünsche für ein Brautpaar eher beiläufig eingeflochten werden. Sollte Bach die Kantate tatsächlich in Köthen komponiert haben, dann war die erste Sängerin des Stücks mit Sicherheit seine zweite Frau Anna Magdalena, eine Sopranistin mit hoher Tessitura und makelloser Technik.

Die Neunzehnjährige Sopranistin Anna Magdalena Wilcke stammte aus einer Trompeterfamilie in Weißenfels und wurde im Mai 1721 von Fürst Leopold von Anhalt-Köthen gegen ein hohes Gehalt als Hofsängerin engagiert. Vielleicht hat sie sich gerade mit dieser Bachschen Cantata bei Hofe eingeführt – im Frühling. Die hohe Tessitura bis a’’ und die Art der Verzierungen passt zu den anderen, sehr anspruchsvollen Arien, die Bach noch in Köthen für Anna Magdalena komponiert hat, nachdem sie am 3. Dezember 1721 seine zweite Frau geworden war.

Zu Beginn vertreibt der Sopran mit eindringlichen Worten und Tönen den winterlichen Frost: „Weichet nur, betrübte Schatten! Frost und Winde, geht zur Ruh!“ Die „betrübten Schatten“ werden in gebrochene Streicherakkorde gekleidet, die wie Frühjahrsnebel von den Wiesen aufsteigen. Darüber stimmt die Oboe eine reich verzierte, strahlende Melodie in G-Dur an, das Sinnbild des Frühlings. Der Sopran greift die Melodie auf und ruft den „betrübten Schatten“ immer wieder zu: „Weichet nur!“ Im Mittelteil der Arie bleibt die Singstimme zunächst mit dem Continuo allein: Sie besingt die Lust der Blumengöttin Flora. Nach diesem munteren Andante kehren noch einmal die „betrübten Schatten“ wieder, das Adagio des Anfangs mit den Streicherfrösten und der Oboenmelodie.

In vier Satzpaaren aus Rezitativ und Arie schildert der Sopran anschließend, wie sich alles in der Natur hegt und regt, denn „der Tag ist von der Kälte frei“. Auch Gottheiten steigen vom Olymp herab, um Frühlingsluft zu schnuppern: Phoebus Apoll eilt auf seinem Sonnenwagen „durch die neugeborne Welt“, gezogen von schnellen Pferden. Deren Galopp hat Bach zu einem rasend schnellen Allegro assai inspiriert – ein Sechzehntel-Parcours für Sopran und Continuo im Rhythmus einer italienischen Giga. An das prägnante Bassthema mit seinen Oktaven hat sich Bach später erinnert, als er einen Triosonatensatz komponierte, den er in seine sechste Sonate für Geige und Cembalo, BWV 1019, aufnahm.

Nicht nur der Sonnengott will in der frisch erwachten Natur „ein Buhler werden“. Auch der Gott der Liebe treibt im Frühling sein Unwesen: Während „Frühlingslüfte durch bunte Felder wehn“, streift Amor umher, um Liebespaare beim Küssen zu beobachten. Das Wehen der Frühlingswinde hat Bach im Geigensolo auf zauberhafte Weise eingefangen: Ihre Sechzehntel in der melancholischen Tonart e-Moll streifen tatsächlich wie ein sanfter Luftzug über weite Felder und verlieren sich immer wieder in weiter Ferne – dank eines genau vorgeschriebenen Decrescendo.

Nach dem Basso continuo und der Sologeige kommt in der nächsten Arie die Solo-Oboe wieder zur Geltung. Sie darf eine der schönsten Melodien spielen, die Bach jemals in den Sinn kamen. Es handelt sich um einen Passepied – wie am Ende der ersten Orchestersuite. Seine Melodie über gebrochenen Dreiklängen des Basses ist das perfekte Sinnbild glücklicher Liebe: „Sich üben im Lieben, im Scherzen sich herzen, ist besser als Florens vergängliche Lust“, singt der Sopran mit kaum verhüllter Erotik „auf Lippen und Brust“. Auch Bach war kein Kostverächter, sondern ein Kind des galanten Zeitalters.

Erst im Rezitativ vor dieser Arie und in den beiden Schlussnummern wird auf das zukünftige Eheglück der beiden Verlobten angespielt, die Bachs Kantate offenbar in Leipzig für sich musizieren ließen. Wer die Auftraggeber der Urfassung waren, steht dahin. Als standesgemäßes Finale dient jedenfalls ein höfischer Tanz, eine Gavotte. Hier kommt erstmals wieder das volle Ensemble zum Einsatz. In die Tanzschritte wird vom Sopran geschickt ein Segenswunsch für zukünftigen Kinderreichtum eingeflochten: „dass eure Liebe Blumen trage!“