"Orfeo" | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Volker David Kirchner

"Orfeo"

“Orfeo” für Bariton, Horn und Klavier aus Sonette an Orpheus von Rainer MAria Rilke (1986/87)

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 1076

Satzbezeichnungen

1. Sostenuto

2. Lento, am corrente

3. Impetuoso

4. Lento

5. Lento. Impetuoso

6. (Lento e misterioso) (Atmen, atmen)

7. Danza d’Orfeo

8. Lento, ma corrente. Poco sostenuto. Più animato

9. Sostenuto

Programmheft vom 0
5.0
5.2000:

1. Da stieg ein Baum

2. Nur wer die Leier schon hob

3. Wandelt sich rasch auch die Welt

4. Lamento d’Orfeo

5. Du aber, Göttlicher

6. Atmen, Atmen

7. Danza d’Orfeo

8. Spiegel: nich nie hat man

9. La gondola funebre
10. Da stieg ein Baum

Erläuterungen

Eine ähnlich geheimnisvolle, wenn auch im Klang ganz andersartige Huldigung an Orpheus ist der Zyklus Orfeo nach Rainer Maria Rilke. Aus den 55 Sonetten an Orpheus, die der Prager Dichter im Februar 1922 in einem Schaffensrausch von nur wenigen Tagen in der Schweiz niederschrieb, hat Kirchner 1986 sechs Gedichte ausgewählt und zu einem Liederzyklus verarbeitet, der 1988 bei den Europäischen Kulturtagen Karlsruhe seine Uraufführung erlebte. Die Rolle des Künstlers in der Welt, sein Scheitern am Leben und die Beschwörung des Numinosen in der Kunst sind die Themen der Gedichte.

In Kirchners Vertonung für Bariton, Horn und Klavier bilden sie einen strengen zehnteiligen Zyklus: “Da stieg ein Baum” fungiert als Prolog und Epilog, die restlichen fünf Gedichte wechseln mit drei instrumentalen Intermezzi ab: Lamento d’Orfeo (Klage des Orpheus), Danza d’Orfeo (Tanz des Orpheus) und als vorletzter Satz La gondola funebre (Die Trauergondel). Nicht zufällig wird dabei die erste Nachtmusik aus der 7. Symphonie von Mahler zitiert, womit zugleich das Vorbild für die große Bogenform des Orfeo benannt ist. Innerhalb der Lieder wechselt die Besetzung zwischen klassischer Liedbegleitung mit Klavier und Trio mit Horn ab, manche Passagen gestaltet der Sänger ohne Begleitung.

Auch motivisch ist Orfeo ganz dezidiert Lieder-“Zyklus”. Seine Konstruktion auf der Basis zweier Kernmotive bestätigt, was Kirchner über seine Musik insgesamt sagte, nämlich dass sie “bei aller atmosphärischen oder dramatischen Beschaffenheit immer auf einen musikalischen Kern bezogen bleibt bzw. von ihm ausgeht und eine äußerste Verdichtung des musikalischen Materials anstrebt, manchmal mit einer geradezu unangenehmen Strenge.” Das einleitende Trio-Lied, das am Ende wiederkehrt, exponiert die beiden zentralen musikalischen Motive: eine Tritonusfigur des Klaviers zum lange ausgehaltenen Hornton sowie das Dreitonmotiv b-as-e bei der Stelle “Orpheus singt”.
Im nächsten Sonett wird dieses Dreitonmotiv in der linken Hand des Klaviers zum Symbol für die Leier des Orpheus, die im dritten Lied einem Pandämoneum perkussiver Klavierakkorde weicht. Das dreitönige Orpheus-Motiv bildet dann im Hornsolo des vierten Satzes die Stimme von Orpheus’ Klage und kehrt auch in Nr. 5, der zentralen Szene des Zyklus, wieder. Hier erleben wir zuerst in den perkussiven Klavierklängen aus dem dritten Lied das Ende des Orpheus, der von den Mänaden zerrissen wird, dann im Horn die Geburt des Hörens aus dem Dreitonmotiv des Orpheus.
An dieser Stelle ist das Horn “Mund der Natur”, und es wird in dieser Weise im ganzen Zyklus als Sinnbild für das Entstehen von Musik aus dem Naturklang eingesetzt. Nicht von ungefähr hat Kirchner den Zyklus der Hornistin Marie-Luise Neunecker gewidmet, von deren subtiler Klangkunst er sich inspirieren ließ. Lang ausgehaltene Horntöne wechseln mit Fanfarenmotiven, Stopftönen und Fernklängen ab. Wie immer bei Kirchner ist der Klang dramaturgisch-plastisch, nicht materialbezogen abstrakt erfunden, so auch im Klavier, wo geheimnisvoll-finstere Cluster ebenso imaginäre Klangräume öffnen wie ganz einfache, transparente Akkorde. Die in nachwagnerischer Deklamation geführte Singstimme lotet die Grenze zum Hauchen, Sprechen und Atmen (sechster Satz) aus. So ist Kirchners Orfeo im Klang aller Beteiligten wie im Lamento-Tonfall seiner Hauptmotive, ein Symbol für das Werden von Musik aus der Sprache und aus dem Klang der Natur heraus.