"Quatuor pour la fin du Temps" | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Olivier Messiaen

"Quatuor pour la fin du Temps"

„Quatuor pour la fin du Temps“ für Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 1273

Satzbezeichnungen

1. Liturgie de cristal

2. Vocalise, pour l’Ange qui annonce la fin du Temps

3. Abîme des oiseaux

4. Intermède

5. Louange à l’Éternité de Jésus

6. Danse de la fureur, pour les sept trompettes

7. Fouillis d’arcs-en-ciel, pour l’Ange qui annonce la fin du Temps

8. Louange à l’Immortalité de Jésus

Erläuterungen

Juni 1940, auf einem Feld bei Toul, westlich von Nancy: Nach der Niederlage Frankreichs hatten die Deutschen dort „Tausende von erschöpften, verratenen Soldaten wie in einem Fischernetz zusammen gepfercht“, wie sich der Dichter Guy Bernard später erinnerte. Die Franzosen hausten unter freiem Himmel und warteten auf den Abtransport in die schlesischen Lager. Mitten in dem Trubel brachte der Klarinettist Henri Akoka unter freiem Himmel vor Tausenden von Mitgefangenen ein Solostück zur Uraufführung, das Olivier Messiaen im Lager für ihn geschrieben hatte. Der Cellist Régis Pasquier diente ihm als Notenständer. Ab und zu geriet der Solist ins Stocken und Fluchen: „Das werde ich niemals können!“ Doch der Komponist beruhigte ihn: „Keine Bange, du wirst schon sehen.“

Auf diese Weise wurde ein Stück aus der Taufe gehoben, das Messiaen im Jahr darauf als dritten Satz in sein „Quartett für das Ende der Zeit“ einfügen sollte, in das berühmte Quatuor pour la fin du temps. Der Titel des Satzes im Rahmen des Quartetts lautet: Abîme des oiseaux, „Abgrund der Vögel“. Er bezieht sich im biblischen Programm des Quartetts auf die Vorstellung von Vögeln, die über dem Abgrund der Zeit kreisen, bevor der Engel der Apokalypse auftritt, um das Ende aller Zeit zu verkünden. Auch losgelöst von jenen mystischen, tief-katholischen Visionen, wie sie die übrigen Sätze des Quartetts prägen, bleibt das Klarinettensolo unüberhörbar ein Stück über Vogelstimmen. Mit diesen nämlich setzte sich Messiaen schon im Gefangenenlager bei Nancy auseinander, wie sein Mitgefangener Bernard berichtete: „Messiaen füllte zahlreiche Notizbücher mit der erstaunlichen rhythmischen und melodischen Virtuosität des Vogelgesangs, den er oftmals in seine Musik einbaute.“ Das Klarinettensolo von 1940 ist dafür einer der schönsten Beweise.

Die Uraufführung des gesamten Quatuor pour la fin du temps fand unter nicht weniger berührenden und dramatischen Umständen statt als die des Klarinettensolos auf einem Acker bei Nancy: Im STALAG VIIIA bei Görlitz, wo „achttausend Belgier und vierzigtausend Franzosen in ein Lager mit dreißig Barracken kamen“, war eine Barracke zum Lagertheater umgebaut worden, eine andere zur Kirche. In Letzterer räumte man Messiaen eine Ecke zum Komponieren ein, in Ersterer kam am 15. Januar 1941 das vollendete Quatuor pour la fin du temps zur Uraufführung, das Messiaen auf Notenpapier geschrieben hatte, welches ihm ein deutscher Hauptmann besorgt hatte. Auch die deutsche Lagerleitung war anwesend, umgeben von 400 Franzosen, die wegen der Januarkälte in geflickte tschechische Uniformen und Holzpantoffeln gestopft worden waren, um der Uraufführung des Quartetts zu lauschen.

Der Klarinettist war noch immer Henri Akoka, hinzu kamen der Geiger Jean Le Boulaire, der Cellist Etienne Pasquier und der Komponist selbst am Klavier. „Niemals wieder wurde mit solcher Aufmerksamkeit und solchem Verständnis zugehört“, meinte der Komponist Jahrzehnte später. In seinen eigenen Erinnerungen hat Messiaen die Zahl der Zuhörer auf 5000 erhöht, was sicher symbolisch gemeint war. Denn mit dem inneren Ohr hörte damals tatsächlich das halbe Lager zu: „Das Publikum war eine äußerst vielfältige Mischung aus allen Gesellschaftsschichten – Landarbeiter, Hilfsarbeiter, Intellektuelle, Berufssoldaten, Ärzte und Geistliche. Nie wieder hat man mir mit solcher Aufmerksamkeit und solchem Verständnis zugehört wie damals“, schrieb Messiaen Jahrzehnte später.

Dem Werk liegt ein ausführliches Programm zugrunde, das von der Geheimen Offenbarung des Johannes inspiriert ist. Im Erstdruck ließ der Komponist unter dem Titel folgenden Zusatz anbringen: „En Hommage à l’Ange de l’Apocalypse, qui lêve la main vers le ciel en disant: „Il n’y auras plus du Temps“. Er schrieb das Quartett demnach zur Erinnerung an jenen Engel der Offenbarung, der, die Hände zum Himmel erhoben, das Ende jeglicher Zeit verkündet. Daraus erklärt sich auch der Titel. Ausführlicher erläuterte der Komponist den Zusammenhang im Vorwort der Partitur und begann mit jenen Versen aus dem 10. Kapitel der Offenbarung, die ihn zu dem Werk inspirierten: „Und ich sah einen starken Engel vom Himmel herabkommen, der war mit einer Wolke bekleidet und hatte den Regenbogen auf seinem Haupt und ein Antlitz wie die Sonne und Füße wie Feuersäulen. Und er hatte in seiner Hand ein Büchlein, das war aufgetan. Und er setzte seinen rechten Fuß auf das Meer und den linken auf die Erde … Und der Engel, den ich stehen sah auf dem Meer und auf der Erde, hob seine rechte Hand gen Himmel und er schwur bei dem, der da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit, dass hinfort keine Zeit mehr sein soll, sondern in den Tagen des siebenten Engels, wenn er posaunen wird, dann ist vollendet das Geheimnis Gottes.“ (Offenbarung 10, 1-2 und 5-7).

Messiaen bekannte, dass sein Quartett „direkt von diesen Versen der Apokalypse inspiriert“ worden sei: „Die musikalische Sprache ist im wesentlichen körperlos, geistig, katholisch. Die thematischen Motive, die melodisch und harmonisch eine Art tonale Allgegenwart ergeben, bringen den Hörer der Ewigkeit in Raum und Unendlichkeit näher. Besondere Rhythmen, frei von jeder Takteinheit, tragen nachdrücklich dazu bei, das Zeitliche in die Ferne zu rücken.“ Zum Aufbau bemerkte der Komponist: „Das Quartett hat acht Sätze. Warum? Sieben ist die vollkommene Zahl, die Schöpfung von sechs Tagen, geheiligt durch den göttlichen Sabbat; dieser siebte Tag dehnt sich aus in die Ewigkeit und wird zum achten des unauslöschlichen Lichts und des unvergänglichen Friedens.“ Im Sinne dieses zahlensymbolischen Aufbaus gab Messiaen jedem der acht Sätze ein ausführliches Programm mit:

1. Liturgie aus Kristall: „Zwischen 3 und 4 Uhr morgens das Erwachen der Vögel: eine Amsel und eine einzelne Nachtigall improvisieren hoch oben in den Bäumen, umgeben von klingendem Blütenstaub und von einem Lichthof aus verlorenen Trillern. Übertragen Sie das auf die religiöse Ebene, und sie werden die Stille der Himmelsharmonien vernehmen!“

2. Vokalise für den Engel, der das Ende der Zeit verkündet: „Der 1. und 3. Teil (sehr kurz) beschwören die Macht dieses starken Engels mit dem Regenbogen über dem Haupt, in eine Wolke gekleidet, wie er einen Fuß auf das Meer und den anderen auf die Erde setzt. In der Mitte hören wir die unfassbaren Harmonien des Himmels: im Klavier zarte Kaskaden aus Akkorden in Blau-Orange, die mit ihrem fernen Glockenklang den quasi-gregorianischen Choral von Geige und Cello umhüllen.“

3. Abgrund der Vögel: „Klarinetten-Solo. Der Abgrund, das ist die Zeit mit ihrer Traurigkeit und Müdigkeit. Die Vögel sind das Gegenteil der Zeit. Sie sind unser Verlangen nach Licht, nach den Sternen und Regenbögen und nach jubilierenden Stimmen!“

4. Intermezzo: „Ein Scherzo von äußerlicherem Charakter als die anderen Sätze, aber mit ihnen durch einige melodische „Anklänge“ verbunden.“

5. Lob auf die Ewigkeit Jesu: „Jesus wird hier als das Wort betrachtet. Eine große Phrase des Cellos, unendlich langsam, verherrlicht in Liebe und Ehrerbietung die Ewigkeit dieses mächtigen und süßen Wortes. Majestätisch breitet sich die Melodie aus wie in einer zarten und unbegrenzten Ferne. ‚Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.’ (Joh. 1,1)“

6. Tanz der Raserei für die sieben Trompeten: „In seinem Rhythmus ist dieser Satz der charakteristischste von allen. Die vier Instrumente ahmen unisono die Gongs und Trompeten nach: die sechs Trompeten der Apokalypse, denen verschiedene Katastrophen folgen. Die Trompete des siebten Engels verkündet die Vollendung des Geheimnisses Gottes. Die Verwendung von hinzugefügten Werten, Rhythmen, die sich vergrößern und verkleinern, Rhythmen, die nicht umkehrbar sind. Musik aus Stein, aus furcht-erregendem, sonorem Granit, eine unwiderstehliche Bewegung aus Stahl, ungeheure Blöcke von purpurner Raserei, von eisiger Trunkenheit. Hören Sie besonders auf das schreckliche Fortissimo des Themas in der rhythmischen Vergrößerung und mit veränderten Registern gegen Ende des Satzes!“

7. Gewirr von Regenbögen für den Engel, der das Ende der Zeit verkündet: „Es erscheinen hier wieder Passagen aus dem 2. Satz. Der Engel erscheint voller Kraft, vor allem der Regenbogen, der ihn bedeckt (der Regenbogen – das Symbol des Friedens, der Weisheit und aller leuchtenden und klingenden Vibration). In meinen Träumen sehe und höre ich geordnete Melodien und Akkorde, bekannte Farben und Formen; dann, nach diesem vorübergehenden Stadium, gehe ich über ins Irreale, und erleide in einer Ekstase ein Wirbeln, ein kreisendes Miteindringen von übermenschlichen Tönen und Farben. Diese Schwerter aus Feuer, dieses Fließen von Lava in Blau-Orange, diese brüsken Sterne: so ist das Gewirr, so sind die Regenbögen.“

8. Lob auf die Unsterblichkeit Jesu: „Ein breit angelegtes Geigensolo, Gegenstück zum Cellosolo des 5. Satzes. Warum dieser zweite Lobgesang? Er richtet sich ganz besonders auf die zweite Wesenheit Jesu, den Menschen Jesus, auf das Wort, das Fleisch geworden ist, auferstanden als Unsterblicher, um uns sein Leben zu schenken. Der Lobgesang ist ganz und gar Liebe. Sein langsamer Aufstieg zu extremer Höhe bedeutet das Aufsteigen des Menschen zu seinem Gott, des Gottessohnes zu seinem Vater, des vergöttlichten Geschöpfes zum Paradies.“ (Olivier Messiaen)

Geradezu mahnend fügte der Meister am Ende hinzu: „Und ich wiederhole, was ich schon zuvor gesagt habe: alles dies bleibt Versuch und Stammeln, wenn man die erdrückende Größe des Themas bedenkt!“ In so tiefer Erfurcht verneigte sich Olivier Messiaen vor dem göttlichen Geheimnis.

Karl Böhmer