Streichsextett C-Dur, op. 140 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Louis Spohr

Streichsextett C-Dur, op. 140

Sextett C-Dur für zwei Violinen, zwei Violen und zwei Violoncelli, op. 140

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 1863

Satzbezeichnungen

1. Allegro moderato

2. Larghetto

3. Scherzo. Moderato – Finale. Presto – Scherzo. Moderato – Presto

Erläuterungen

Louis Spohr wurde 1784 in Braunschweig geboren, wo man noch heute sein Geburtshaus sehen kann. Er war der einzige Konkurrent Niccolò Paganinis, der den Niedersachsen respektvoll “den vorzüglichsten Sänger” auf seinem Instrument nannte. Neben seiner Virtuosenkarriere war er als Opernkapellmeister in Wien und später in Kassel tätig, schrieb seinerzeit berühmte Opern (Faust, Jessonda u. a.) und verhalf in seinen insgesamt 10 Sinfonien und seinen Violinkonzerten der Musiksprache der Romantik zum Durchbruch.
Daß er heute fast völlig im Schatten seiner jüngeren deutschen Kollegen Mendelssohn, Schumann und Brahms steht, die ihn gleichwohl verehrten, liegt an dem klassizistischen Duktus seiner Musik, die im Laufe seines langen Lebens von der Entwicklung überholt wurde. So bescheinigte Schumann Spohrs Kammermusik 1838 nurmehr einen “beschaulichen, wenn man so sagen darf, didaktischen Charakter”, fügte jedoch hinzu, es sei “der Lohn der durch Fleiß und Studien gewonnenen Meisterschaft, daß sie sich bis in’s hohe Alter ergiebig zeigt” .
Spohrs Themen sind – seinem Geburtsjahr entsprechend – noch an Mozart orientiert, den er als das höchste Ideal der Tonkunst betrachtete; so haben etwa die Trillerfiguren im 1. Satz des Streichsextetts ihr Vorbild in Mozarts letztem Streichquintett, KV 614, und das Thema des Finales erinnert an dessen Rondothemen. Spohrs Originalität offenbart sich eher in seinen ungewöhnlichen chromatischen Modulationen, in neuartigen Timbres und Formexperimenten. In dieser Hinsicht enthalten seine Werke Anregungen, die die Romantiker aufgriffen. Eine Einschätzung, wie sie Beethoven von Spohrs Werken gab – es fehle ihnen alle Poesie und das berühmte Nonett sei ein “wahrer Schund” – wirkt deshalb einseitig und überzogen.
Neben jenem Nonett, op. 31, ist das Streichsextett, op. 140, Spohrs bedeutendstes Kammermusikwerk. Bis zur Drucklegung des ersten Brahms-Sextetts, op. 18, galt es als das Streichsextett schlechthin. Denn obwohl Boccherini und Brunetti bereits um 1775 in Paris Werke in dieser Besetzung veröffentlicht hatten, wurde erst Spohrs Sextett zum Prototyp einer neuen Gattung, die dann bei Brahms, Dvorak, Reger und Schönberg in den Kanon der Streicherkammermusik aufgenommen wurde. Vor allem in der perfekten klanglichen Balance zwischen den Instrumenten und in der Vielfalt der Klangfarben von gleichsam “luftigen” Pizzicatostellen bis zu orchestralen Tuttipassagen wurde Spohrs op. 140 zum Vorbild für alle späteren Sextette. Bemerkenswert ist das Werk auch wegen seiner Entstehungszeit: Spohr komponierte es – nach dem Wortlaut seines Werkverzeichnisses – “Zur Zeit der glorreichen Volks-Revolution zur Wiedererweckung der Freiheit, Einheit und Größe Deutschlands” 1848. Obwohl die Wortwahl dieses Mottos für uns durch die politischen Parolen des 20. Jahrhunderts verdorben ist, zeugte sie seinerzeit von der legitimen Hoffnung überzeugter Patrioten und Demokraten auf die Verwirklichung einer freien deutschen Einheit. Spohr, der schon an der Pariser Julirevolution von 1830 lebhaften Anteil genommen hatte, reiste 1848 von Kassel nach Frankfurt, um mit den Parlamentariern in der Paulskirche zu diskutieren. Das Sextett zeugt von diesem patriotischen Hochgefühl höchstens durch seinen besonders hohen künstlerischen Anspruch, denn im Charakter ist es ein idyllisches Stück. Sein erster Satz wird – wie der des Nonetts – fast völlig von einem Motiv beherrscht, das die Bratschen zu Beginn vorstellen. Der langsame Satz, Larghetto, stellt einen hymnischen Gesang und ein tänzerisch rhythmisiertes Thema einander gegenüber. Weil feurige Scherzi “überhaupt nicht des Meisters Stärke” waren, wie Schumann bemerkte, hört man als 3. Satz ein kurzes Menuett in Moll mit einem ebenso kurzen Mittelteil in Dur. Die Kürze des Satzes erklärt sich daraus, daß er attacca ins Finale übergeht, in dessen Verlauf das Menuett noch zweimal wiederkehrt. Diese Verschränkung von zwei gegensätzlichen Satzcharakteren in einem Satz gehörte zu den Lieblingsideen der spätromantischen Kammermusik-Meister (Brahms, Dvorak u. a.). Wie so oft haben sie sich von Spohr dazu anregen lassen.