"Vergessene Völker" | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Veljo Tormis

"Vergessene Völker"

Sechs Liederzyklen für Chor, “Vergessene Völker” (“Unustatud ralwad”)

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 1956

Satzbezeichnungen

1. Das Erbe der Liven

2. Wotische Hochzeitslieder

3. Drei Spiellieder aus Estland

4. Wepsische Pfade

5. Abende in Germanland

Erläuterungen

Veljo Tormis wurde 1930 Kuusalu/Nord-Estland als Sohn eines Kirchenorganisten geboren. Er absolvierte “die Tallinner Musikschule als Organist und setzte das Studium am Tallinner Konservatorium (der einzigen Musikhochschule Estlands) fort. Im nächsten Jahr wurde aber die Orgelklasse aufgelöst: Die Orgel als ein ‘religiöses’ Instrument war für ‘unerwünscht’ erklärt worden. In derselben Zeit schrieb Tormis in der Jugendabteilung des Estnischen Komponistenverbands seine ersten Kompositionen. 1950 bezog er die Kompositionsklasse des Tallinner Konservatoriums; 1951 das Moskauer Konservatorium, wo er bei Vissarion Sebalin studierte und das er 1956 absolvierte. Seit 1969 ist er freischaffender Komponist und besonders als Chorkomponist international bekannt. Der eigentümlichste Teil seiner Chormusik basiert auf der Folklore. Tormis ist überzeugt, daß die Folklore eine wichtige ethische Botschaft für die Gegenwart in sich trägt und einen hohen Kunstwert hat; seit Anfang der 70er Jahre haben seine Artikel, Radiosendungen und andere öffentliche Auftritte den Leuten geholfen, ihre Wurzeln in der Volkskultur zu erkennen. Musikalisch bezieht sich Tormis, der an mehreren Volkslieder-Expeditionen teilgenommen hat, auf die älteste Schicht der rund 2500 Jahre alten finnisch-ugrischen Folklore: auf den Runo [Runen]-Gesang – alliterierende Verse, die mit einstimmigen diatonischen Melodien gesungen werden. Bis zu den 70er Jahren war dieser nur Fachleuten ein Begriff. – Tormis schrieb auch Werke, die auf der neueren, von der deutschen Liedertafel-Bewegung beeinflußten estnischen Folklore oder auf der Folklore anderer Völker beruhen. Er kommentierte sein Schaffen: ‘Nicht ich benutze das Volkslied, das Volkslied benutzt mich.’ Unter seinen zahlreichen Auszeichnungen ist die bedeutendste der Staatspreis der UdSSR (1974)…

Veljo Tormis wurde Komponist in der Zeit der ‘Tauwetter’-Periode nach Stalins Tod und gehörte zur führenden Gruppe der jungen Erneuerer der estnischen Musik. Seine Neli kildu [Vier Scherben] für hohe Stimme und Klavier (Jan Kaplinksi, 1955) – Miniaturen über die vier Jahreszeiten, deren aphoristische Lakonität an den frühen Webern erinnert – war eines der ersten der nationalromantischen Ästhetik widersprechenden Werke in der Nachkriegszeit in Estland… Naturpoesie und ethische Fragen sind bedeutsam auch in Tormis’ weiterem Schaffen.” (M. Vaitmaa)
Der Chorzyklus Vergessene Völker des estnischen Komponisten Veljo Tormis ist über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren (seit 1970) entstanden. Der Komponist schrieb dazu: “Da ich ein estnischer Komponist bin, halte ich es für natürlich, daß mein Werk hauptsächlich auf den Motiven der estnischen Folklore beruht. Ich wendete mich unserem nationalen Erbe zu, um meine musikalische Muttersprache – die musikalische Identität meines Volkes – zu entdecken, die schon von früheren Komponistengenerationen (z. B. Saar, Kreek und Tubin) erkundet und für ihre Zeit ausgewertet worden war. Während ich die Archive nach Folklorepublikationen durchstöberte, erkannte ich, daß estnische Folklore Teil einer sehr alten Kultur ist… Es wurde mir ebenso klar, daß die musikalische Tradition zu einer vorchristlichen, schamanischen Zivilisation gehört, die – vom ökologischen Standpunkt aus – der Natur sehr nahe ist.” Diese Zivilisation wiederzubeleben, ist das Anliegen des Chorzyklus Vergessene Völker, für den Veljo Tormis 1990 die Prämie des Estnischen Kulturfonds erhielt.

Mit den “vergessenen” Völkern sind die Volksgruppen des alten Baltikums vor der Überlagerung durch das Christentum und die wechselnden schwedischen, polnischen, russischen oder deutschen Besatzer gemeint. Es handelt sich um Völker, die heute fast ausgestorben sind. Was sie verbindet, ist die Zugehörigkeit zu einer Sprachfamilie: dem Finno-Ugrischen. Die Sprachen dieser Familie bilden Enklaven zwischen den Europa beherrschenden romanischen, germanischen und slawischen Sprachen. Zu ihnen gehört z. B. das Ungarische, das den ugrischen Ast der Sprachfamilie repräsentiert, oder das Finnische, das zusammen mit den Sprachen des alten Baltikums einen eigenen Zweig, die balto-finnischen Sprachen, bildet. Einen Teil dieser Sprachen und die Kultur der Völker, die sie gebrauchten, hat Veljo Tormis in seinem monumentalen Werk vor dem Vergessen bewahrt. Von den sechs Teilen des Zyklus erklingen in unserem Konzert aus Zeitgründen nur vier: Das Erbe der Liven (1970),Wotische Hochzeitslieder (1971), Abende in Ingermanland (1979) und Wepsische Pfade (1983). Sie werden ergänzt durch drei Spiellieder aus der estnischen Heimat des Chores.
Nach den LIVEN, einem finno-ugrischen Volksstamm, erhielt im 12. Jahrhundert Livland seinen Namen. Im 13. Jahrhundert wurden die Liven christianisiert , im 16. Jahrhundert verloren sie ihre politische Unabhängigkeit im Kampf zwischen Polen und Rußland.
WOTISCH wird heute nur noch von wenigen Menschen in der Grenzregion zwischen Estland und Rußland gesprochen – in jenen entlegenen Teilen der beiden ehemaligen Sowjetrepubliken, in denen der Zwang zu einheitlicher Sprache die alten Traditionen nicht restlos verdrängen konnte. Der Stamm der Woten war im Mittelalter am finnischen Meerbusen östlich von Tallinn beheimatet.

Das frühere Land der WEPSEN liegt nordöstlich von St. Petersburg, INGERMANLAND südwestlich der Newametropole, zwischen Finnischem Meerbusen, Newa, Ilmen- und Peipussee. Der Name dieser Landschaft geht – wie der Livlands – auf ein finno-ugrisches Volk, die Ingrier, zurück. Das von ihnen bewohnte Land gehörte im Mittelalter zu Nowgorod, bevor es im 15. Jahrhundert dem Großfürstentum Moskau zufiel und später im Machtkampf zwischen Schweden und Rußland zur umstrittenen Region wurde.

Die LIEDTEXTE zeichnen in den fünf Teilen des Programms ein lebendiges Bild vom dörflichen Leben. Zwischen Dorffesten, Hochzeiten und verschiedenen Liebesgeschichten spielt immer auch die Natur eine zentrale Rolle, so wie es Veljo Tormis in seiner Bemerkung angedeutet hat.

Die VERTONUNG entspricht dem von Tormis in den 70er Jahren entwickelten Stil, einer neuen, auf authentischer Folklore basierenden Art zu komponieren. “In der Hauptstimme läßt er die Volksweise unverändert, färbt sie aber in Wiederholungen durch verschiedene Klangfarben und Register, durch Texturen und harmonische Varianten. Die Vertikale ist den Tonhöhen nach von der Volksweise abgeleitet, benutzt jedoch zahlreiche Satztypen: einfache Orgelpunkte, Ostinato-Begleitformeln, Polyphonie, Polytonalität, Heterophonie, Parallelakkordik, Cluster und kontrollierte Aleatorik. Das ‘bannende’, schamanenhafte Wesen des archaischen Volkslieds wird durch intensiven Rhythmus verstärkt. Tormis führte die den Volkssängern eigene, strenge Vortragsmanier in die professionelle Musik ein, wobei ein traditionell-‘europäisches’ Phrasieren vermieden wird.” (Merike Vaitmaa) Ein amerikanischer Kritiker meinte zu der Musik des Zyklus: “Glauben Sie mir: Sie haben nie etwas Ähnliches wie Vergessene Völker gehört. Es ist eines der herausragenden Dokumente der Chormusik des späten 20. Jahrhunderts.”