"Bachianas Brasileiras" | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Heitor Villa-Lobos

"Bachianas Brasileiras"

“Bachianas Brasileiras” Nr. 5 für Sopran und vier Violoncelli

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 1998

Satzbezeichnungen

1. Adagio

2. Dansa (Martelo)

Erläuterungen

1887 in Rio de Janeiro geboren, gilt Villa-Lobos als Vater der brasilianischen Musik. Auf einer Viola erlernte er das Cellospiel, die Gitarre während zahlloser gemeinsamer Stunden mit den Straßenmusikanten von Rio, deren Gesellschaft er seiner Bestimmung zum Mediziner vorzog. Nach einem vergeblichen Versuch, in Rio Musiktheorie zu studieren, verdiente er sich sein Geld als Cellist in Cafés und Kinos und blieb kompositorisch Autodidakt. Die zwanziger Jahre verbrachte er in Paris, in der großen Zeit eines Strawinsky, Poulenc, Prokofieff, und dort, an der Seine, gab er seinem Schaffen den internationalen Anstrich. 1930 in seine Heimat zurück gekehrt, stieg er zu einem der gefeiertsten, aber auch umstrittensten Künstler Brasiliens auf. Vehement bereitete er den Boden für ein brasilianisches Musikleben nach europäischem Zuschnitt (Konservatorium in Rio und andre Institutionen), tat dies aber im Auftrag einer politisch sehr weit rechts stehenden Regierung.

Je nach Art der Zählung hat Villa-Lobos 800 bis 2000 Werke in allen Genres geschrieben. Die Werklisten vermerken 4 Opern, 6 Ballette, 11 Symphonien, 17 Streichquartette etc. etc. Am erfolgreichsten aber und für seinen Namen bis heute prägend wurden zwei dezidiert brasilianische Zyklen von Werken, die jeweils völlig unterschiedlich besetzt sind, aber einer gemeinsamen Idee folgen: die Bachianas Brasileiras Nr. 1-7 und die Choros Nr. 1-14. In ersteren schuf er seine Synthese zwischen Bach und Brasilien, in letzteren eine Huldigung an die Straßenmusiker von Rio und ihre Musik, die sogenannten Choros, mit denen er seine Jugend verbracht hatte.

“Die große Stärke seiner Musik ist ihre Spontaneität… Diese Frische kann den gelehrtesten Hörer wie den naivsten überzeugen, sie bringt ihre Wirkung durch Farbe, rhythmische Energie und die pure Schönheit ihrer Melodien hervor, aber vor allem durch ihre magischen Klangfarben, die selbst in Chor- und Kammermusik den Eindruck orchestraler Brillianz erwecken.” (Corrêa de Azevedo)

In den Bachianas Brasileiras hat Villa-Lobos seiner Verehrung für die Musik Johann Sebastian Bachs Ausdruck verliehen. Die Bachischen Züge der neun Werke werden jedoch “brasilianisiert”, indem sie sich mit Elementen der Volksmusik Brasiliens verbinden. Dem Komponisten war die Folklore seiner Heimat nicht nur durch sein Musizieren mit den Choros, den Straßenbands in Rio, vertraut, sondern auch aufgrund ausführlicher Studien im brasilianischen Urwald. Angeblich soll er dabei Kannibalen in die Hände gefallen sein, die ihn nur deshalb verschonten, weil er so schöne Musik machen konnte. Im Paris der Zwanziger Jahre kamen solch abenteuerliche Geschichten aus dem Urwald besonders gut an, und mit ihrer Hilfe und dank der exotischen Küche seiner Heimat gelang es Villa-Lobos, seine “brasilianischen Soiréen” zur Sensation der Pariser High Society zu machen. Dabei gab er neben abenteuerlichen Geschichten von zweifelhaftem Wahrheitsgehalt auch die originalen Melodien seiner Heimat zum Besten.

Diese Melodien Brasiliens mit den Formen Bachs zu verbinden, war für Villa-Lobos mehr als ein kapriziöser Einfall, in dem sich persönliche Vorlieben widerspiegelten. Er hatte zwischen beiden Musikstilen, so weit sie auch geographisch wie historisch auseinanderliegen mochten, strukturelle Gemeinsamkeiten entdeckt. Diese Erkenntnisse hatte er gleichsam im “Modellversuch” bei den Straßenmusikern Brasiliens erprobt und festgestellt, dass für sie die Musik Bachs eine ganz natürliche, unkomplizierte Angelegenheit war.

Diese Affinitäten brachten ihn 1930, nach seiner Rückkehr aus Paris, auf die Idee, Bach und Brasilien gemeinsam einen Zyklus zu widmen. Die Nr. 5 dieser Reihe ist die berühmteste, denn sie weist neben den vier Cellostimmen (wahlweise zu verdoppeln) einen Sopran auf. Dieser mischt sich gleich zu Beginn des Adagios mit einer langen Vokalise ins Geschehen, derweil die Celli eine Art freier Passcaglia im Fünfvierteltakt spielen. Herrliche, “Bachische” Vorhaltsdissonanzen bestimmen diesen Teil des ersten Satzes. Erst im schnelleren Mittelteil geht der Sopran zur Rezitation des ersten Gedichts von Ruth Corêa über, das vom Glanz des Mondes in der Nacht und der “Saudade” erzählt, dem unverwechselbaren portugiesischen Wort für Sehnsucht. Am Ende kehren die sehnsüchtigen Vorhalte des Beginns zurück, während der Sopran ins Summen übergeht.

Der zweite Satz, den Villa-Lobos erst 1945 anfügte, ist ein Martelo, ein brasilianischer Tanz im schnellen Zweiertakt. Starke Akzente und permamentes Staccato prägen diesen Satz, in dem der Sopran in schnellem Parlando von einem Vögelchen erzählt, das vom Geliebten berichten soll (Gedicht von Manoel Bandeira). Worte wie Flauta und Viola hat Villa-Lobos in entsprechende Klangfarben des Cello-Ensembles gehüllt.