"Galgenlieder" | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Sofia Gubaidulina

"Galgenlieder"

Vierzehn Stücke für Singstimme, Flöte, Bajan, Kontrabass und Schlagzeug, “Galgenlieder”

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 2187

Satzbezeichnungen

Erläuterungen

Christian Morgenstern, der bayerische Dichter, der 1914 an Tuberkulose starb, gilt als einer der großen Humoristen deutscher Sprache. Aus seinen frühen Lyrikbänden, allen voran den Galgenliedern, hat sich so manches Gedicht bis heute im Kanon deutscher Literatur erhalten, etwa Der Trichter oder Das Ästhetische Wiesel. Dies hängt auch mit dem verlegerischen Erfolg dieser so verquer scheinenden Verse zusammen: Die Galgenlieder, 1905 im Verlag Bruno Cassirer in Berlin erschienen, waren bereits 1929 hunderttausendmal, ein Jahrzehnt später fast dreihunderttausendmal verkauft worden.

Im Ursprung waren diese Gedichte – überspitzt gesagt – Stammtischkalauer. “Die ersten, noch den neunziger Jahren entsamenden Galgenlieder,” so berichtete Morgenstern in einem Brief 1910, “entstanden für einen lustigen Kreis, der sich auf einem Ausflug nach Werder bei Potsdam, allwo noch heute ein sogenannter ‘Galgenberg’ gezeigt wird, wie das so die Laune gibt, mit diesem Namen schmücken zu müssen meinte. Aus dem Namen erwuchs alsdann das Weitere…”

1895 begann der “lustige Kreis” als skurriler Stammtisch namens “Galgenbrüder” in Berlin seine Runden zu drehen, ausgestattet mit morbiden Utensilien und einen eigenen Jargon kultivierend. Das Essen nannte man “Henkersmahlzeit”, den Kellner “Abdecker”, die Kellnerin wurde zur “Henkersmaid” und die Stammtischglocke zum “Armensünderglöckchen”. Morgenstern lieferte den Zusammenkünften der “Galgenbrüderschaft” den dichterischen Zündstoff, sein Freund Julius Hirschfeld die Kompositionen, nach denen die Verse regelrecht “zersungen” wurden. Nach einem Jahr intensivster Auskostung des gespenstischen Rituals löste sich der Bund im Juni 1896 wieder auf; neun Jahre später feierte er in den Galgenliedern seine Wiederauferstehung.

Im Vorwort zu dieser Blütenlese der Galgenbrüder-Lyrik beschwört der Dichter noch einmal die Atmosphäre des damaligen Kreises und ordnet ihn in ein ironisches Zeitpanorama ein:
“Wir leben in einer bewegten Zeit. Ein Tag folgt dem andern, und neues Leben sproßt aus den Ruinen. Auf moralischem, medizinischem, poetischem, patriotischem Gebiete, in Handel, Wandel, Kunst und Wissenschaft, allüberall dieselbe Erscheinung, dieselbe Tendenz. Symptom reiht sich an Symptom. Und solch ein Symptom war auch die Idee, welche eines schönen Tages des hinverflossenen Jahrhundertendes acht junge Männer, festentschlossen, dem feindlichen Moment wo immer im Sinne der Zeit und auch wieder nicht im Sinne der Zeit … die Singspielhalle sozusagen ihres Humors entgegenzustellen, zusammenschmiedete. Ein sonderbarer Kult vereinte sie. Zuvörderst wird das Licht verdreht, ein schwarzes Tuch dann aus dem Korb und übern Tisch gezogen, mit Schauderzeichen reich phosphoresziert, und bleich ein einzig Wachs inmitten der Idee des Galgenbergs entnommner freudig-schrecklicher Symbole.”

Bedenkt man, daß die “Galgenlieder” schon seinerzeit am Stammtisch gesungen wurden, verwundert es nicht, dass sie immer wieder auch Komponisten zur Vertonung herausforderten. Sofia Gubaidulina komponierte zunächst eine erste Version “a 3” für Gesang, Kontrabaß und Schlagzeug, die im November 1996 im englischen Huddersfield ihre Uraufführung erlebte. Die spätere Fassung Galgenlieder a 5 entstand für Elsbeth Mosers Ensemble that und fügte der ursprünglichen Besetzung noch eine Querflöte (auch Alt- und Baßquerflöte) sowie den Bajan hinzu. Der Zyklus gliedert sich in 14 Vokal- und Instrumental-stücke, von denen 10 auf Verse Morgensterns zurückgreifen. Nr. 5/6 und 10/11 sind instrumentale Intermezzi.

Die künstlerische Paarung “Morgenstern und Gubaidulina” muß auf den ersten Blick überraschen. Denn die russische Komponistin hat in ihren Werken stets nach tiefer religiöser Symbolik, nach “Wieder-Vereinigung” der unser Zeitalter prägenden Gegensätze gestrebt. Dies scheint zum schieren Nonsens der Morgenstern-Lyrik nicht recht passen zu wollen, und doch hat Gubaidulina in dieser frühen Lyrik bereits den späten Morgenstern entdeckt, der ein glühender Bewunderer Rudolph Steiners und der Anthroposophie war. Auf diesem Weg gelang es ihr, auch die Galgenlieder im Sinne einer tiefen Humanität zu deuten, wie sie in ihrer Einführung zu dem Zyklus schildert:

“Der Dichter selbst hat immer behauptet, daß sich die zwei Richtungen seiner Poesie (die anthroposophisch-mystische und die burlesk-humoristische) nicht widersprechen. Der hochgradige Unsinn, der Nonsense, das Absurde sei lediglich eine Fortsetzung und möglicherweise ein noch tieferer Aspekt der mystischen Erkenntnis.

Für meine rein künstlerische Aufgabe fand ich diese Dualität außerordentlich reizvoll, da sie Anlaß gab zu überraschenden Modulationen von einem Zustand in einen anderen. Mir gefällt sehr, wenn die Sängerin nach der grotesken Nummer ‘Das Knie’ ganz ernsthaft davon singt, wie ihr der Wurm in der Muschel ‘sein Herze offenbart’ hat. Oder wenn sich nach dem Stück ‘Nein!’, in dem der Strick mit übertriebener Expressivität weint und sich wollüstig nach einem Opfer am Galgen sehnt, in Nr. 14 (‘Das Mondschaf’) die Stimmung plötzlich aufhellt.
In dieser Poesie ist die Sympathie, die Liebe (eine stille, nicht vorgetäuschte Liebe) zur Welt der Geschöpfe – zu den Tieren und Dingen – besonders reizend. (Gemeint sind Dinge im Rilke’schen Sinne, wo das DING auch von innen her als etwas Essentielles und nicht nur äußerlich Existierendes betrachtet wird.) Hier wird die Welt der Geschöpfe lebendig und beginnt, sich mit wichtigen philosophischen Lebensfragen auseinanderzusetzen. Großartig ist auch, daß diese von innen her leuchtende Ernsthaftigkeit nach außen hin nur zur Hälfte seriös ist. Sie bleibt immer ein Spiel – ein Spiel mit der Sprache, ein Spiel mit den Gesetzmäßigkeiten der Poesie und ein Spiel, wie man mit den Möglichkeiten der Phantastik, die Grenzen der Alltäglichkeit, die Grenzen unserer technisierten und ideologisierten Welt überschreiten kann, wie man ‘aussteigen’ und eintreten kann in die Welt der herrlichen Illusion der Zärtlichkeit, der Liebe, der lichten Momente und sehr häufig auch der Trauer. Und dennoch bleibt es immer ein Spiel… Auch für den Komponisten bedeutet dies eine hervorragende Möglichkeit, eine kunstvolle, nahezu theatralische Situation zu erfinden, in der Spiel, Fröhlichkeit und phantasievoIle Einfälle einander abwechseln – wie auch eine ernsthafte Liebe zur Welt, zum Leben und … zum Tod.”