"West Side Story" | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Leonard Bernstein

"West Side Story"

„West Side Story“ für 2 Trompeten, Horn, Posaune und Tuba

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 2485

Satzbezeichnungen

1. Prologue

2. Maria

3. One hand, one heart

4. Tonight

Erläuterungen

UPPER WEST SIDE, Lower East Side, Waterfront – alles klingende Namen, die New York-Besuchern atmosphärisch dichte Bilder vors innere Auge zaubern. Eben dies versucht auch unser heutiges Programm: eine einzige Huldigung an New York, seine Musical-Theater und Kinos, seine Jazzhelden wie Goodman und Gershwin, seine Straßen- und Musichall-Klänge,

BERNSTEINS EINZIGE FILMMUSIK

„SIE KÖNNEN IMMER eine Suite draus machen!“ So trösteten die Hollywood-Bosse halbherzig ihren neuesten Filmkomponisten mit Namen Leonard Bernstein. Den überzeugten New Yorker hatte es im Mai 1954 von Brandeis University an die amerikanische Westküste verschlagen, weil ihn der Rohschnitt eines Films von Elia Kazan gereizt hatte: „On the waterfront“, in den deutschen Kinos „Die Faust im Nacken“, lautete der Titel des Sozialdramas, in dem Marlon Brando seine erste Hauptrolle spielte. Es ging um kriminelle junge Leute, die ein engagierter Jesuitenpater, gespielt von Karl Malden, auf den rechten Weg zurückführen wollte.

BERNSTEIN HATTE GEGLAUBT, mit seiner zeitgemäßen, zwischen Copland und Strawinsky angesiedelten Musik dem Film eine Dimension hinzufügen zu können. Doch die Erfahrungen im „upper dubbing room“, einem großen Schnittraum in den Columbia Studios in Hollywood, belehrten ihn rasch eines Besseren. Frustriert schrieb er einen Brief an die New York Times: „Manchmal entschieden sie, ein ganzes Musikstück zu streichen, weil es die Stimmung einer Szene „verallgemeinere“, während sie sie -persönlich‘ haben wollten. Manchmal drehten sie die Musik für ein paar Sekunden leise, um einen Satz betont und laut alleine stehen zu lassen – und dann drehten sie sie wieder laut. Manchmal wurde die Musik, die als Komposition mit Anfang, Mitte und Ende geplant war, sieben Takte vor Schluss einfach abgedreht. Und so sitzt der Komponist hilflos daneben und es bleibt ihm nichts übrig, als den Verlust eines Großteils der Partitur schweren Herzens zu akzeptieren… -Es ist gut für den Film. Es ist gut für den Film‘, wiederholt er immer wieder demütig.“ Es sollte Bernsteins einzige Filmmusik bleiben, Tatsächlich ist er dem zynischen Rat der Filmleute gefolgt und hat eine höchst eindrucksvolle Suite aus seinem Beitrag zu „On the waterfront“ gemacht, in der nun kein einziger Takt verloren geht. Wer freilich Marlon Brandon als Terry Malloy oder Rod Steiger als korrupten Gewerkschaftsboss noch vor Augen hat, der wird auch im Konzertsaal die düster-spannungsvolle Atmosphäre der Bilder assoziieren.

KLARINETTENKONZERT FÜR BENNY GOODMAN

FÜR EINEN KLARINETTISTEN wie Benny Goodman schreibt man kein klassisches, dreisätziges Konzert. Als Aaron Copland 1948 von Goodman den Auftrag zu einem Klarinettenkonzert erhielt, entschied er sich für eine zweisätzige Form, die typisch amerikanisch ist: langsamer Einleitungssatz (ein langsamer Walzer) und jazziges Finale, dazwischen die Solokadenz. An Jazz-Anklängen ließ es der Komponist ebenso wenig fehlen wie an Hinweisen darauf, dass sein Solist nicht primär ein gediegen „klassischer“ Klarinettist war. Die „coole“ Aura des Solos im ersten Satz, die „Hot Jazz“-Attacken der Kadenz sowie das hohe Register und das Glissando im Finale gehörten alle zu den bekannten Spezialitäten des Jazzers und Bandleaders Goodman.

ZUR FORM BEMERKTE Copland lakonisch: „Der erste Satz ist einfach in der Struktur, angelehnt an die übliche A-B-A-Form, lyrisch-ausdrucksvoll im Charakter. Die Kadenz gibt dem Solisten reichlich Gelegenheit, sein Können zu zeigen, bereitet aber schon Fragmente der Themen vor, die im zweiten Satz ausgeführt werden. Letztere stellen eine unbewusste Fusion aus Elementen nord- und südamerikanischer Volksmusik dar. So wurde etwa eine Phrase aus einem gerade sehr populären Brasilianischen Lied, das ich in Rio hörte, ins zweite Thema aufgenommen. Alles in allem ist die Form des Finales ein freies Rondo mit wechselnden Episoden und einer langen C-Dur-Coda.“ Die südamerikanischen Melodien lernte Copland während eines Aufenthalts in Rio de Janeiro 1947 kennen.

DIE INSTRUMENTIERUNG sieht neben dem Streichorchester nur Harfe und Klavier vor. Letzteres tritt erst im Finale, als jazzig-perkussive Klangfolie, hinzu und für ganze 5 Takte mit einem Solo hervor. Dass es im Finale so tänzerisch zugeht, erinnert unmittelbar an die Ballette Coplands wie „Rodeo“, während der erste Satz eher die zarten Klänge seines „Appalachian Spring“ ins Gedächtnis ruft.

NEW YORKER KLÄNGE AN DER SEINE

JEDER ZUHÖRER SOLLE sich selbst im Geiste nach Paris versetzen und seine eigenen Bilder zur Musik assoziieren, meinte George Gershwin vor der Uraufführung seiner symphonischen Suite „An American in Paris“ 1928 in New York. Es darf mit Fug und Recht bezweifelt werden, dass der Großteil des damaligen New Yorker Publikums schon in Paris gewesen war. Postkarten-Bilder waren wohl eher der Erfahrungsgrund, und so war es eine willkommene Ergänzung zum wortkargen Komponisten, wenn der Kritiker Deems Taylor ein detailliertes Programm zu dem symphonischen Werk mitlieferte. Während Gershwin nur ganz allgemein davon sprach, dass er hier die Gefühle eines Amerikaners bei Spaziergängen durch Paris habe wiedergeben wollen, machte Taylor das übliche amerikanische Sightseeing-Programm zur Grundlage für seine Deutung der Partitur:

UNSER AMERIKANER beginnt seinen Rundgang – natürlich – auf den Champs-Elysées, wird von hupenden Taxis und anderen Klangelementen großstädtischen Flairs auf Trab gehalten, bis er am Ende in einem Bistro im Quartier Latin landet, wo er auf einen anderen Amerikaner trifft (!) und mit ihm seine Erfahrungen austauscht. Letztere Begebenheit führt zur Reprise aller Themen, die zuvor die verschiedenen Episoden der „promenade“ andeuteten. Wie in Mussorgskys „Bildern einer Ausstellung“ erhält der Spaziergang als wiederkehrendes Element sein Mottothema, das die gesamte Partitur durchzieht. Die Episoden dazwischen lassen uns – laut Taylor – den Amerikaner an verschiedenen Stationen sehen: Trompeten und jazzige Posaunen verkünden, dass er sich die Programme der „Music Halls“ etwas genauer ansieht. Ein zärtliches Klarinettensolo lässt erkennen, dass er sich auf das linke Ufer der Seine verirrt hat. (Die Tatsache, dass eine Solo-Violine noch zärtlicher antwortet, haben die Franzosen natürlich als Hinweis auf einen Flirt mit einer hübschen Pariserin gedeutet!) Der zentrale langsame Abschnitt des Werkes ist der echte Blues einer gedämpften Trompete, der in triumphaler Größe das Werk auch beschließen wird.

SPÄTESTENS HIER fragt sich der kundige Tourist, wo denn das Akkordeon und die französischen Chansons bleiben. Gershwins „Amerikaner in Paris“ könnte ebenso gut „Spaziergang auf der 5th Avenue“ heißen. Die Partitur berichtet mehr vom New Yorker Lebensgefühl der Zwanziger Jahre als von authentischen Pariser Eindrücken. Als Gene Kelly den Titel für seinen Tanzfilm von 1951 entlehnte, hatten deutlich mehr Amerikaner Paris gesehen – als Soldaten. Ohne einen Flirt als Pas-de-deux an der Seine kam man nun nicht mehr aus!

EAST SIDE STORYWEST SIDE STORY

Leonard Bernstein, der Ur-New Yorker Dirigent und Komponist, war ein scharfer Beobachter und Kritiker seiner Zeit. Auch sein Broadway-Musical „West Side Story“ hatte er ursprünglich als Auseinandersetzung mit einem Zeitproblem – dem Aufkommen der Jugendgangs in den USA – gedacht. Bernstein und sein Textdichter Stephen Sondheim wollten ihre moderne Variante des Romeo und Julia-Stoffes ursprünglich unter ganz anderen Bedingungen an der New Yorker East Side spielen lassen, als während der Arbeit Unruhen unter den Jugendbanden der West Side aufkamen. Dies inspirierte sie zur Umarbeitung der Handlung und zu dem neuen Titel, unter dem das Werk unsterblich wurde. Mit Fug und Recht kann man behaupten, dass Bernstein hier eine Art „Zauberflöte“ des 20. Jahrhunderts schrieb, ein aus Dialogen und Musik perfekt zusammengesetztes Ganzes, das den Zeitgeist auf den Punkt bringt und zugleich eine überzeitliche Liebesgeschichte auf tragisch-berührende Weise erzählt. Die Liebe zwischen Tony und Maria nimmt ein tragisches Ende, wie in Shakespeares „Romeo und Julia“, doch ihr Aufkeimen in Songs wie „Maria“ oder „Tonight“ wurde in der Musik des letzten Jahrhunderts nie schöner geschildert. Anklänge an Puccini und Mahler, Copland und Strawinsky, Musical und Jazz vereinen sich zu einem untrennbaren, unverwechselbaren Ganzen.

DIE SYMPHONIC DANCES aus der West Side Story dienten dem Dirigenten Bernstein lange Zeit als Ausflucht, um nicht das Ganze Stück für die Platte dirigieren zu müssen. Erst für die – auch im Film packend dokumentierte – Einspielung in Opernbsesetzung mit José Carreras und Kiri te Kanawa hat er der alte Bernstein diese Abstinenz aufgegeben. Gerade in seiner Deutung wird das opernhafte Pathos. der Quasi-Puccini in der Partitur deutlich.