"De tenebroso lacu" | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Alessandro Scarlatti

"De tenebroso lacu"

Motette “De tenebroso lacu”

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 2518

Satzbezeichnungen

1. Arioso De tenebroso lacu

2. Aria Derelecti nos exorant

3. Recitativo

4. Aria Si Fenices sunt ardentes (Adagio)

5. Recitativo

6. Aria De profundis nos clamamus (Andante)

Erläuterungen

ALESSANDRO SCARLATTI, der Großmeister der weltlichen italienischen Solokantate, hat auch geistliche Werke dieses Genres geschrieben. Eine Sammlung seiner Motetti (wie man in Italien lateinische Solokantaten nannte) erschien 1703 im Druck – nicht etwa im katholichen Süden, sondern im protestantischen Amsterdam, was zeigt, daß Kirchenstücke im Barock sogar unabhängig von der Konfession ihre Käufer fanden. Neben diesen gedruckten Werken ist eine ganze Reihe seiner Motetti auch handschriftlich überliefert, darunter De tenebroso lacu.
Es handelt sich um eine Motette zum Totengedenken, wohl geschrieben für die in Italien besonders aufwendigen musikalischen Darbietungen zu Allerheiligen und Allerseelen. Der Text beschreibt in düsteren Farben die Marter der Seelen im Fegefeuer und ermahnt die Zuhörer, dieses Leid durch gute Werke, Almosen und Gebete zu lindern. Das Stück appelliert also an das katholische Verständnis von Werkgerechtigkeit und Buße, was im protestantischen Raum keine Gültigkeit besaß. Dennoch ist das Stück ausgerechnet in London, in der British Library, überliefert, was auf Aufführungen in katholischen englischen Adelskreisen hindeutet.
Musikalisch gehört es zu Scarlattis großartigsten Werken.
Die düsteren Bilder des Textes inspirierten ihn zu musikalischen Visionen des Totenreichs von geradezu Dante’scher Größe. Ins Leere fallende Dreiklangsmotive der Streicher eröffnen die Kantate auf ebenso unkonventionelle wie abstrakte Weise; erst allmählich entsteht daraus ein erkennbarer musikalischer Zusammenhang, bis die Singstimme über einem Meer aus wogenden Streicherakkorden ihre Schilderung des “Tränensees” beginnt. Dieser Einstieg wird in der Schlußarie der Kantate wiederaufgegriffen, woraus eine für die Barockzeit höchst ungewöhnliche zyklische Abrundung entsteht.
Die drei Arien zeigen Scarlattis Kunst der Affektdarstellung auf ihrem Höhepunkt: Die erste drückt den Charakter einer flehentlichen Bitte in wiegenden Violinmotiven aus, die immer wieder durch Mollakkorde eingetrübt werden. Die zweite ist ein großes Lamento mit einem weit ausschwingenden, pathetischen Thema, während die dritte mit ihren unbarmherzig wiederholten punktierten Rhythmen zum Elend der Seelen im Fegefeuer zurücklenkt. Über zitternden Akkorden spricht die Singstimme in Seufzern und weiten Melismen.