"Benedictus sis tu" | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Birgitta von Schweden

"Benedictus sis tu"

“Benedictus sis tu”

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 2673

Satzbezeichnungen

Erläuterungen

Mehr als 200 Jahre liegen zwischen Hildegard und Birgitta von Schweden. Der Lebensweg der beiden Frauen verlief unterschiedlich und dennoch gibt es frappierende Gemeinsamkeiten zwischen den beiden faszinierenden Gestalten des 12. und des 14. Jahrhunderts. Hier Hildegard, die mit 14, am Allerheiligenfest des Jahres 1112, in die Frauenklause auf dem Disibodenberg eintrat, dort Birgitta, die im gleichen Alter vermählt wurde. Beide gehörten Familien aus dem Hochadel an. Beide waren Visionärinnen, die mit über 40 ihr Leben komplett veränderten und ihrer Berufung nachkamen. Beide traten mit dem, was sie zu sagen hatten, in die Öffentlichkeit und kommunizierten mit den Mächtigen ihrer Zeit. Hildegard soll in hohem Alter mehrere Predigtreisen unternommen haben, Birgitta machte sich als mahnende Pilgerin auf den Weg ins Heilige Land. Hildegard wie auch Birgitta schrieben ihre Offenbarungen nieder (bzw. ließen sie niederschreiben). Hildegard wird heute als Volksheilige verehrt (die offiziellen Kanonisationsversuche im 13. Jahrhundert sind gescheitert), Birgitta ist eine echte Heilige, auch wenn es dazu dreier Kanonisationen bedurfte (1391, 1415 und 1419).

BIRGITTA

Birger Petersson und seine Gemahlin Ingeborg Bengtsdotter, die Eltern Birgittas, hatten ihren Herrensitz in Finsta, ca. 50 Kilometer nordöstlich von Stockholm. Petersson galt als einer der vermögendsten Grundherren Schwedens und nahm als Lagman (Landvogt) von Uppland auf die Wahl des Königs Einfluß. Wie Hildegard berichtete auch seine Tochter Birgitta davon, schon als kleines Kind Visionen und Offenbarungen erlebt zu haben. Als sie 14 war, hatte sie eine Erscheinung des Gekreuzigten. Typisch für ihre Zeit ist die “compassio sentimentale”, das Mitleiden bis hin zum physischen Erleben der Leiden Christi.

Gemäß dem Wunsch ihres Vaters heiratete Birgitta mit 14 Jahren. Es war eine politische Verbindung mit Ulf Gudmarsson, dem Sohn des benachbarten Lagmans von Närke. Wider Erwarten wurde es eine überaus glückliche und zutiefst christlich geprägte Ehe, aus der acht Kinder hervorgingen. Ulf Gudmarsson und Birgitta traten gemeinsam dem dritten Orden der Franziskaner bei. 1335 folgte Birgitta dem Ruf des jungen schwedischen Königs Magnus II. nach Stockholm, wo sie als Oberhofmeisterin die junge Königin Blanche beraten sollte. Birgitta war bald von dem zunehmend liederlichen Lebensstil und der Atmosphäre am königlichen Hof angewidert. 1341-42 unternahm sie deshalb zusammen mit ihrem Mann eine Pilgerreise nach Santiago de Compostela in Spanien, einem der fünf größten und berühmtesten Wallfahrtsorte Europas. Die Verehrung der Heiligen (in Santiago de Compostela des Apostels Jakobus), denen als Fürsprecher bei Gott im mittelalterlichen Weltbild ein fester Platz in der Hierarchie zukam, nahm konkrete Gestalt in Wallfahrten und im Reliquienkult an. Stationen der Pilgerreise waren Köln, Aix und Marseille. Zurück in Schweden trat Ulf Gudmarsson als Novize in das Kloster in Alvastra ein. Er starb jedoch am 13. Dezember 1344, noch ohne sein Noviziat vollendet zu haben.

Der Tod ihres Mannes war ein schwerer Schlag für Birgitta, die, 41 Jahre alt, ihr Leben grundlegend ändern sollte. Einige Zeit danach hatte sie ihr “Berufungserlebnis”: “Fürchte dich nicht! Denn ich bin der Schöpfer aller Dinge und kein Betrüger. Wisse, daß ich nicht deinetwegen allein rede, sondern auch zum Heil aller Christen! Vernimm also, was ich dir sage! Du wirst meine Braut und mein Kanal sein. Du wirst Geistliches und geheimnisvoll Himmlisches hören und sehen, und mein Geist wird bei dir bleiben bis zu deinem Tod. Glaube darum fest, daß ich jener selber bin, der von der reinsten Jungfrau geboren wurde, der zum Heil aller Menschen gelitten hat und gestorben ist. Ich bin es auch, der von den Toten auferstanden ist und in den Himmel aufgefahren ist und der jetzt durch meinen Geist mit dir redet.”

HEILIGE ODER HEXE?

Im Vergleich zur Berufungsvision Hildegards erscheint die Angst vor der Illusion bei Birgitta stärker zu sein als bei Hildegard. In ihrer Schau betont sie ausgiebig, wie Christus bemüht ist, ihr zu versichern, daß er es wirklich ist und nicht eine Täuschung. Dieses Verhalten Birgittas ist nicht verwunderlich. Die Zeiten hatten sich geändert. Aus dem Umkreis Hildegards kennen wir keine einzige Quelle die besagt, daß ihre visionären Fähigkeiten von irgend jemanden angezweifelt oder gar bestritten wurden. Niemand wagte zum Beispiel zu behaupten, daß nicht Gott, sondern gar der Teufel aus ihr rede, um die Welt hinters Licht zu führen. Unter ausdrücklicher Berufung auf das bekannte (und anerkannte) Pauluswort im 1. Korintherbrief 14,34 (so sollen die Frauen in den Versammlungen schweigen) predigte hingegen ein Dominikaner von der Kanzel, daß Birgittas Schauungen auf Täuschung, Träumerei und Einbildung als Inspirationsquelle beruhten. An die Visionen einer Frau zu glauben, erschien ihm als Absurdität. Andere rieten ihr “Oh Herrin, du träumst zu viel, du wachst zu viel; es täte dir gut, zu trinken und mehr zuschlafen.” In Stockholm wurde Birgitta auf der Straße von einem Verächter schmutziges Wasser über den Kopf gegossen. In Rom, dessen Bevölkerung die Schwedin Gottes Zorn voraussagte, “gab es einige, die drohten, sie lebend zu verbrennen”. Andere beschimpften sie als Abweichlerin und Hexe. Ein Mönch des Kloster Alvastra, wo sie eine Zeitlang gelebt hatte, bezeichnete sie als Phantastin. Zu diesem Zeitpunkt war Birgitta schon längst eine Berühmtheit, und der Papst hatte die neue Ordensregel (die ihr Christus diktiert habe) als Ergänzung zur Regel des Hl. Augustinus anerkannt.

PILGERIN IM NAMEN GOTTES

1346 also gründete Birgitta (auf Geheiß Gottes) ihren Orden, für das ihr der König das königliche Schloß in Vadstena einschließlich der zugehörigen Liegenschaften übereignet hatte. Nach einer weiteren Vision fühlte sie sich bestimmt, in die europäische Politik einzugreifen. Sie appellierte an Edward II., König von England (1327 – 1377) und den französischen König Philipp VI. (1328 – 1350) sich an ihre Pflichten als christliche Herrscher zu erinnern und forderte sie auf, den Krieg zu beenden, der seit 1327 Europa erschütterte und in die Geschichte als hundertjähriger Krieg einging. Birgittas Schreiben an die Monarchen zeigte allerdings keine Wirkung. Erfolglos blieben auch Birgittas Bemühungen, Papst Clemens VI. (1342 – 1352), der seit 1342 im Exil in Avignon residierte, dazu zu bewegen, nach Rom zurückzukehren, wo sich der Stuhl Petri eigentlich befand. Birgitta pilgerte nach Rom, um dort auch das Heilige Jahr zu erleben.

Es folgten weitere Pilgerreisen an die heiligen Plätze Italiens. Im November 1371 begab sie sich in Begleitung unter anderem von vier ihrer Kinder und beauftragt durch die Gottesmutter Maria auf eine Pilgerfahrt in das Heilige Land, wo sie ihre wohl eindringlichsten und erschütterndsten Visionen erlebte, die sie unmittelbar nach der Ekstase, noch halb entrückt, ihren Beichtvätern diktierte.

Birgitta starb am 23. Juli 1373 in Rom. Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung wurde sie in der Kirche San Lorenzo fuori le mura beigesetzt. Dort befindet sich noch heute in der Birgitta-Kapelle ihr Sarkophag. Im Dezember 1337 überführten die Kinder Birgittas ihren Leichnam in ihre schwedische Heimat nach Vadstena.

BIRGITTAS MUSIK

Der Cantus Sororum – der Gesang der Birgittinenschwestern – ist der größte selbständige Beitrag eines schwedischen Dichters und Musikers im Mittelalter zum liturgischen Gesamtbestand der katholischen Kirche. Er ist in direktem Anschluß an die Ordensbildung der Heiligen Birgitta und, von ihr inspiriert, als ein besonderes Wochenritual der Schwestern des Salvatorordens für die Verehrung der Heiligen Jungfrau zustande gekommen.
Verfasser und musikalischer Kompilator des CS ist der spätere Beichtiger des Mutterklosters in Vadstena, Magister Petrus Olavi (um 1378) aus Skänninge in Östergötland, Birgittas Seelenführer und Reisebegleiter auf ihrer Romfahrt. Seine Autorschaft des CS ist in der mittelalterlichen Quellenüberlieferung wohl begründet, was jedoch nicht verhindert hat, daß zeitweise auch der Prior von Alvastra, der Zisterzienser Petrus Olavi und sogar Birgitta selbst als Verfasser angegeben wurden. Der Cantus Sororum ist in zahlreichen Handschriften des 14. bis 16. Jahrhunderts überliefert. LES FLAMBOYANTS musizieren nach einer Handschrift aus Stockholm, Codex A 84.
Alle im heutigen Programm vorgestellten Lieder der heiligen Birgitta (oder besser von Petrus Olavi) sind Antiphone. Benedictus sis tu steht im dorischen Modus und hat einen im Vergleich zu den meisten Liedern Birgittas weiten Ambitus von eineinhalb Oktaven. Bis auf wenige, mit Bedacht plazierte Melismen ist die Vertonung syllabisch.