"A kasar el rey / Anderleto" | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Anonymus

"A kasar el rey / Anderleto"

“A kasar el rey / Anderleto”, Romanze (Bulgarien; Bosnien) / Wiegenlied

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 2741

Satzbezeichnungen

Erläuterungen

Die Konzertprogramme von Sarband stellen das euro-zentrische Geschichtsverständnis in Frage. Haben wir die Schalmeien und viele Zupfinstrumente aus dem Orient übernommen? Sind die Beziehungen zwischen Orient und Okzident vor langer Zeit weitaus enger gewesen, als wir es uns heute vorstellen können oder wollen? Gab es damals überhaupt schon einen Orient und einen Okzident, blühte nicht eher eine übergreifende, übernationale, überkonfessionelle und überreligiöse Mittelmeerkultur?

Ein Abend mit Sarband läßt Beziehungen dort erkennen, wo wir sie nicht vermuten.

SEPHARAD

“Sepharad” – der vom hebräischen Namen für Spanien abgeleitete Titel des Programms verweist auf eine geographisch-historische Keimzelle raumübergreifender Kultur. Das spanische Mittelalter schrieb ein wichtiges Kapitel in der Geschichte des jüdischen Volkes. Nachdem sie schon im Nahen Osten am goldenen Zeitalter der klassischen arabischen Kultur partizipiert hatten, spielten die Juden im mittelalterlichen Spanien eine wichtige Rolle als Mittler zwischen arabischer und christlicher Kultur.

Am 2. August 1492 begann jedoch der Exodus der spanischen Juden: In wenigen Monaten wurden mehr als 200.000 Juden gezwungen, Spanien und die spanischen Herrschaftsbereiche von Sizilien, Süditalien, Sardinien und den Niederlanden unter unwürdigsten Bedingungen zu verlassen. Sie fanden ihr Exil vor allem in den Gebieten des Osmanischen Reichs. Ob in Konstantinopel, Saloniki, Ägypten, Syrien, in Palästina oder auf dem Balkan, die Sepharden ließen sich durch die lokal vorherrschenden Traditionen anregen und entwickelten so ihre “mitgebrachte” Kultur in lebendiger Weise weiter.

Die charakteristischen traditionellen Lieder der Sepharden waren und sind noch heute die ‘romanzas’ in jüdisch-spanischer Sprache, dem ‘judezmo’. Die Texte dieser Lieder erzählen vom Leben der spanischen Juden und von der spanischen Geschichte. Aus dem Mittelalter sind uns keine schriftlichen Zeugnisse dieser Musik erhalten. Neben den Schilderungen Sephardischer Musik in den Quellen kann uns jedoch die reiche mündliche Tradition der orientalischen und osteuropäischen Sepharden als Wegweiser durch diese ungeheuer reiche musikalische Kultur dienen.Diese lebende Tradition, in der die Exilanten in spätmittelalterlichem kastilischem Spanisch alte Epen tradierten, wurde durch den Kontakt mit den verschiedenen Sprachen und Musikkulturen der Länder, in denen die Sephardim lebten, wesentlich beeinflußt. Nicht nur wurden Melodien übernommen, um geistliche und weltliche Dichtung vorzutragen, sondern es gingen auch viele neue musikalische Elemente, wie das modale Tonsystem, rhythmische und metrische Merkmale, melodische Verzierungen und Kadenzformeln in das traditionelle Repertoire ein. Jüdische Musiker hatten bereits im mittelalterlichen Spanien eng mit Musikern aus anderen Kulturen zusammengearbeitet; diese Tradition wurde nach dem Exodus nahtlos fortgesetzt. Die wechsel- und leidvolle Exilgeschichte der Sephardim ist zugleich auch die Geschichte fruchtbarer interkultureller Begegnungen.

DER GESANG DER FRAUEN

In der traditionellen sephardischen Musikausübung dominiert die weibliche Gesangsstimme. Viele der in den Liedern angesprochenen Themen werden aus der Sicht von Frauen geschildert. Frauen waren es, die in der Dia-spora ihre sephardische Vergangenheit an ihre Töchter weitergaben. In der heute noch lebendigen Tradition begleiten sich die Sängerinnen mit der Rahmentrommel pandeiro. Der spanische Mönch Andres Bemaldez beobachtete die Vetreibung der Juden aus Spanien und hinterließ die folgenden Zeilen, die für uns ein Beleg für die bedeutende Rolle der Frauen im sephardischen Gesang sind:

“Sie verließen das Land, in dem sie geboren waren. Klein und groß, jung und alt, zu Fuß, auf Mauleseln oder in Karren, folgte jeder seinem eigenen Weg zu dem von ihm gewählten Ziel. Sie hielten am Straßenrand, einige vor Erschöpfung zusammenbrechend, andere krank, andere sterbend. Es gab kein lebendes Wesen, daß nicht Mitleid mit diesen unglücklichen Menschen haben konnte. Auf dem ganzen Weg wurden sie dazu gedrängt, die Taufe zu empfangen, doch ihre Rabbiner wiesen sie an, sich zu weigem, und flehten die Frauen an, zu singen und die Trommel zu schlagen, um ihre Seelen zu erbauen.” In der Diaspora wurden die sephardischen Lieder und Romanzen später teilweise von professionellen männlichen Musikern adaptiert und in Kaffee- und Wirtshäusern mit großem Erfolg vorgetragen. Auch wurden – und werden noch heute – geistliche Texte mit Romanzen-Melodien unterlegt.DAS REPERTOIRE

Das sephardische Liedrepertoire besteht im wesentlichen aus drei Gattungen: dem romancero, dem cancionero und den coplas. Einige coplas werden im Zusammenhang der Geburt und der Beschneidung gesungen (coplas de parida). Hauptsächlich haben coplas ihre Funktion im Jahreslauf, als Teil des paraliturgischen Repertoires an jüdischen Festtagen: coplas de purim, coplas de shavuot und coplas de tu bishvat. Der sephardische cancionero mit seinen canticas, cantigas (im Osmanischen Bereich), cantes und cantares (Marokko) besteht zum großen Teil aus lyrischen Liedern über die Freuden und Leiden der Liebe. Die canticas de boda (Hochzeitslieder) bilden den Hauptanteil des Liedrepertoires bei Hochzeitsfesten.

DIE ROMANZE

Die Romanze war bereits im spanischen Spätmittelalter und in der Renaissance eine sehr populäre Liedform. Sie wurde ursprünglich als Volkslied gepflegt und erst gegen Ende des 15. Jahrhundens am spanischen Hof eingeführt. Die Romanze des 15. lahrhunderts, wie sie unter anderem im “Cancionero musical de Palacio” und (als romance viejo betitelt) in den Tabulaturen der Vihuelisten aus dem 16. Jahrhundert erhalten ist, hat überwiegend (wie auch die meisten sephardischen Romanzen, vor allem in der östlichen Überlieferung) eine poetische Struktur von sechzehnsilbigen Textzeilen mit assonanten Reimen und eine musikalische Form mit vier gleichlangen musikalischen Phrasen. (Die erste Phrase hat häufig eine bogenförmig aufsteigende, dann wieder absteigende melodische Kontur; manchmal ist auch reine Aszendenzmelodik anzutreffen. Die zweite melodische Phrase liegt meist höher und berührt den melodischen Höhepunkt. Nur selten sind die erste und zweite Melodiezeile identisch. Der dritte melodische Abschnitt steigt dann über großen Ton-umfang stufenweise zu dem tieferen Kadenzton ab. Die vierte Phrase mit geringem Tonumfang beendet häufig die Melodie in einer kadenzierenden Abwärtsbewegung.)

Viele der Melodien sind durch ein absteigendes chromatisches Tetrachord bestimmt, daß auch ein Merkmal der musiqa andalusiyya ist. Im östlichen Mittelmeerraum lassen sich die Melodien oft den Tongattungen (makamar) der islamischen Musikwelt zuordnen. Im westlichen Mittelmeerraum, vor allem in Marokko, wurden die Melodien, wahrscheinlich unter späterem europäischen Einfluß, diatonisiert und der Dur-/Moll-Tonalität angepaßt. Im rhythmisch-metrischen Vortrag der Romanzen wechseln oft metrische und nicht metrische Abschnitte einander ab. Die östliche Tradition zeigt eine starke Tendenz zum metrisch freien Vortrag, während im westlich-marokkanischen Repertoire der abrupte Wechsel von binärem und ternärem Metrum beliebt ist. Romanzen haben in der Diaspora hauptsächlich die Funktion von Schlaf- und Wiegenliedern, daneben dienen sie auch als Klage- und Totenlieder und als paraliturgische Musik bei jüdischen religiösen Feiern.

Im hier vorgestellten Programm machen wir anhand von verschiedenen Gattungen die Bedeutung der jüdischen Musikkultur in der Bewahrung und Modifikation, einerseits der mittelalterlichen spanischen Romanzen, andererseits der arabo-andalusischen muwassaha- bzw. harjas deutlich. Unser Ziel ist es, ein lebendiges Hörbild der einmaligen Symbiose von mittelalterlichen Erzählungen nordspanischen, andalusischen oder spanischjüdischen Ursprungs mit orientalischen Melodien aus Kleinasien oder dem Balkan zu schaffen: den Lebensraum Sepharad.