Sonata in G | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Gottfried Keller

Sonata in G

Sonata in G

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 2911

Satzbezeichnungen

Vivace – Allegro – Adagio – Allegro & Adagio

Erläuterungen

Manche Komponisten scheinen nur deshalb vergessen worden zu sein, weil sie eine fatale Namensgleichheit mit größeren Geistern aus anderen Kunstsparten verbindet. Der deutsche Barockkomponist Gottfried Keller wird gegen den schweizerischen Romancier des 19. Jahrhunderts schwerlich bestehen, so wenig wie der Pergolesi-Zeitgenosse Leonardo Vinci gegen Leonardo da Vinci. Dabei hätten beide unsere Aufmerksamkeit verdient.

Gottfried oder Godefroy Keller war einer der ersten Vorboten der späteren deutsch-italienischen Überlagerung des Londoner Musiklebens im 18. Jahrhundert.

2000
GOTTFRIED KELLER
Sonatas

Zu den Sonaten des in London lebenden Deutschen Gottfried Keller überlassen wir Karsten Erik Ose von Ornamente 99 das Wort: „Private Musikgesellschaften und Konzertreihen gab es seit den 1690er Jahren vor allem in der Hauptstadt London. Gottfried Finger hat seit 1693 eine eigene Reihe in „York Buildings off the Strand“ etabliert… Laut Zeitungsberichten standen am 20. April 1704 auch Sonaten „for flutes and hautboys“ auf dem Programm… Die Blockflötenpartien wurden von James Paisible und John Banister, in ihrer Zeit hochgerühmte Interpreten, übernommen, am Cembalo saß Fingers Kollege Gottfried Keller aus Deutschland. Dessen Sonaten in G und B sind kurz vor 1700 entstanden, wurden in Amsterdam bei Roger veröffentlicht und teilweise Princess Anne (1665-1714) – Gemahlin Georgs von Dänemark, ab 1702 Königin von England – gewidmet. Die originale Besetzungsangabe nennt Blockflöten, Oboen oder Violinen und Basso continuo bzw. „double bass“, die Einzelstimmen zudem „Organo“ und „Violoncello“.

Keller folgt in diesen Sonaten dem Vorbild Fingers nicht nur in der Besetzung: Auch er verbindet das kontrapunktische Erbe seiner Heimat mit Einflüssen aus Italien und Frankreich – fugierte Sätze stehen zwanglos neben Tänzen wie Menuett und Chaconne oder harmonisch aufgewühlten langsamen Sätzen, die als Drama en miniature der italienischen Oper abgelauscht scheinen.

Abgesehen von einer höfischen Aufführung vor Anne und Georg sind Kellers Sonaten Zeitungsartikeln zufolge auch im Theater als Zwischenaktmusiken erklungen – etwa am 27. April 1703 im Theatre Royal, Drury Lane: „a new Entertainment of Instrumental Musick compos’d by ML Keller, in which ML Paisible, ML Banister and ML Latour perform some extraordinary Parts on the Flute, Violin and Hautboy“. Neben den genannten Musikern wird an anderer Stelle der Geiger Gasparo Visconti erwähnt, wie diese ein herausragender Meister seines Faches. Jener exquisite Zirkel hat gelegentlich auch mit „Dilettanten“ ein „musikalisches Konsortium“ gebildet – so z. B. in einem kleinen, engen Raum über der Lagerhalle des Londoner Kohlenhändlers Thomas Britton. Sir John Hawkins berichtet: „Auf eigene Kosten unterhielt er (Britton) ein so ausgezeichnetes Konsortium für ungefähr vierzig Jahre (von 1660-1710), dass die größten Meister sich ausgezeichnet fühlten, sich dort entfalten zu dürfen; und Menschen mit den besten Qualitäten hatten das Bedürfnis, diese bescheidene Hütte mit ihrer Anwesenheit und ihrem Respekt zu beehren.‘ Gespielt wurden Werke u. a. von Purcell, Keller und Finger, interpretiert von jenen größten Meistern.“

Über Gottfried Kellers Leben weiß man abgesehen von der deutschen Herkunft und dem spärlich dokumentierten Schaffen in London wenig. Er war Spezialist für Generalbass, was in einer posthum erschienenen Schule nachzulesen ist, und hätte wohl eine glänzende Karriere vor sich gehabt, wäre er nicht im November 1704 allzu früh verstorben. Zur Interpretation seiner Sonaten vermerkte Ose: „Dem angesprochenen Stilgemisch der englischen Barockmusik dürfte eine höchst eigenartige Interpretation entsprochen haben. Wie mag es geklungen haben, wenn französische Musiker wie Paisible (Blockflöte) oder Latour (Oboe) Werke eines deutschen Immigranten aufgeführt haben – an der Seite eines italienischen Geigers wie Visconti“ Wohlgemerkt vor dem Hintergrund der Annahme, dass der Musiker des 18. Jahrhunderts keinesfalls nur das gespielt hat, was der Komponist notiert hat. Es wurde improvisiert, ornamentiert – und das von jedem so, „wie ihm der Schnabel gewachsen war“, sprich so, wie er es in seiner Heimat gelernt hatte – und da tun sich zwischen Italien und Frankreich wirklich Welten auf.

Die wenigen erhaltenen Klangdokumente (bestiftete Walzen, Spieluhren und dosen etc.), Augenzeugenberichte und Traktate zur Kunst der Verzierung lassen bis heute ein lebendiges Bild vom musikalischen Alltag des 17./18. Jahrhunderts in England entstehen. Wenn z. B. Händel eine seiner italienischen Primadonnen aus dem Fenster zu werfen drohte, weil sie nicht müde wurde, „willkührliche Manieren“ in seinen Arien anzubringen, sagt das nicht allein etwas über Händels ästhetisches Ideal, sondern vor allem über die gängige musikalische Praxis.

Vermutlich würde Händel auch ornamente 99 aus dem Fenster schmeißen, könnte er seine Sonaten mit Ornamenten überhäuft hören… Die Üppigkeit der Ornamentik mag hier und da irritieren. Doch ist es mit dem Ohrenschmaus nicht ebenso wie mit den Gaumenfreuden? … Nur wer davon kostet, wird wissen, was er goutiert und was nicht – und vielleicht am Ende ja Lust auf mehr verspüren: auf exotische Gewürze, sprich: fremde Töne, Trillerketten, rauschende Arpeggien, die erst das Salz in der Suppe ausmachen.“