Violinsonate Nr. 1 c-Moll, op. 4 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Friedrich Gernsheim

Violinsonate Nr. 1 c-Moll, op. 4

Sonate Nr. 1 c-Moll für Violine, op. 4

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 3255

Satzbezeichnungen

1. Andante con moto

2. Allegretto scherzoso

3. Allegro

Erläuterungen

2003
FRIEDRICH GERNSHEIM
Violinsonate c-Moll, op. 4

„Am grünen deutschen Rheine liegt eine alte Stadt“- mit diesen romantischen Zeilen eines Chorsatzes pries Friedrich Gernsheim 1889 bei der Einweihung des Festhauses zu Worms seine Vaterstadt. Gernsheims Vita war typisch für das jüdische Bildungsbürgertum im Rheinland des 19. Jahrhunderts. Er wurde am 17. Juli 1839 in eine alteingesessene Wormser Familie hineingeboren. Der Vater war Arzt, die Mutter Pianistin. Sie erteilte dem kleinen Fritz die ersten Klavierstunden, der Spohr-Schüler Louis Liebe, damals Leiter des Wormser Musikvereins, die erste Unterweisung im Tonsatz.

Die revolutionären Unruhen von 1848/49 veranlassten den besorgten Vater, Mutter und Sohn nach Mainz in Sicherheit zu bringen. Dort ging Friedrich vorübergehend bei dem jungen Wiener Ernst Pauer in die Lehre, bevor die Übersiedlung der Familie nach Frankfurt 1849 dem musikalischen Talent endgültig den Weg wies. Renommierte Lehrer an Frankfurter Instituten besorgten die gründliche Ausbildung auf Violine, Klavier und in Komposition. Das Publikum der Frankfurter Theaterkonzerte konnte 1850 erstmals den Pianisten Gernsheim bestaunen und eine Orchesterouvertüre des frühreifen 11jährigen wohlwollend zur Kenntnis nehmen. Als Pianist blieb Gernsheim seinen Wunderkind-Anfängen treu: er gehörte zu den bestechenden Solisten seiner Generation.

Die weiteren Stationen seines Lebenswegs führten ihn in Epizentren der musikalischen Bebungen des 19. Jahrhunderts: nach Leipzig und Paris. Zwischen der ästhetischen Richtung, die er am Leipziger Konservatorium kennenlernte? der „akademischen“ Schule im Gefolge Mendelssohns – und manchen spektakulären Ereignissen der Pariser Jahre – er wurde 1861 Zeuge des Tannhäuser-Skandals – hat es für ihn wohl nie eine Wahl gegeben: Wagner und die Neudeutschen blieben ihm fremd. Die Ausbildung bei seinen Leipziger Lehrern Ignaz Moscheles (Klavier), Moritz Hauptmann (Theorie) und Ferdinand David (Violine) behielt die Oberhand.

Nach Deutschland zurückgekehrt, erklomm Gernsheim stetig und mit Bravour all jene Sprossen der dirigentischen Karriereleiter, die einem Johannes Brahms verwehrt blieben: Er war Chorleiter in Saarbrücken, ab 1865 Lehrer für Komposition und Klavier am Kölner Konservatorium. Von dort bis zur Leitung des Rotterdamer Musikvereins war es nur ein Schritt.

In Holland blieb er von 1874 bis 1890 und setzte sich dort mit Nachdruck für die Werke seines Freundes Brahms ein. Die Freundschaft datierte von 1862 und ist in einigen ebenso knappen wie anerkennenden Briefen dokumentiert.

1890 übernahm Gernsheim in Berlin den Sternschen Gesangverein und eine Lehrerstelle am Sternschen Konservatorium. Später leitete er eine Meisterklasse für Komposition an der Akademie der Künste. Außerdem trat er weiterhin als Pianist und Dirigent auf. Bis zu seinem Tode 1916 lebte er in Berlin als Autorität von akademischem Format.

„Durch die Plastik und Klarheit seiner Tonschöpfungen und die ihnen inne wohnende Poesie und Frische erscheint Gernsheim unter den Componisten der Gegenwart besonders befähigt, … im edelsten Sinne des Wortes zu Popularität und Anerkennung seiner Werke zu gelangen“, schrieb das Musikalische Conversations-Lexikon zu Berlin 1874. Die Popularität blieb Gernsheim bis zu seinem Tode erhalten. Posthum freilich wurde sein Ruhm von den Zeitläuften überrannt: von den Folgen des I. Weltkriegs, von der beginnenden Moderne und schließlich von den Nationalsozialisten. Sie verboten die Werke des jüdischen Komponisten, entfernten die Noten aus den Bibliotheken und ließen die 1928 erschienene Biographie von K. Holl einstampfen. Unter den Folgen dieser „Notenverbrennung“ litt der Ruf Friedrich Gernsheims bis heute. Anders als österreichische und schweizerische Spätromantiker wie Fuchs oder Raff ist er längst noch nicht rehabilitiert. Dies nahm Villa Musica schon mehrmals zum Anlass, Gernsheim in den Mittelpunkt von Projekten zu rücken. So erklangen das 3. Klavierquartett F-Dur, op. 47, das 2. Klavierquintett h-Moll, op. 63, die späte e-Moll-Cellosonate und das H-Dur-Klaviertrio.

Gerade in der Kammermusik werden erstaunliche Parallelen zu Brahms sicht- und hörbar. Sie deckt sich in Gattungen und Umfang beinahe exakt mit der Brahms’schen: 5 Streichquartette und 2 Streichquintette, 4 Klaviertrios, 3 Klavierquartette und 2 Klavierquintette, 4 Violin- und 2 Cellosonaten. Gernsheim publizierte diese Opera bei Verlegern, die auch die Hauptverleger von Brahms waren: Simrock, Rieter-Biedermann und Peters. In den kammermusikalischen Verlagsangeboten Ende des 19. Jahrhunderts rangierte er gleichberechtigt neben den Großen: neben Brahms und Dvorak, Bruch und Reger.

Die Violinsonate, op. 4, war das erste seiner 23 Kammermusik-Opera und die erste seiner vier Violinsonaten. Sie entstand ein Jahrzehnt nach der F.A.E.-Sonate von Schumann, Dietrich und Brahms ebenfalls am Rhein, aber nicht wie diese in Düsseldorf, sondern in Köln. Als die Sonate 1865 im Verlag Rieter-Biedermann erschien, war der 25-jährige Gernsheim gerade zum Kompositionslehrer ans Kölner Konservatorium berufen worden und übernahm dort auch die Leitung des Städtischen Gesangvereins und der Musikalischen Gesellschaft. Zu seinem ersten Kammermusik-Opus regten ihn die kammermusikalischen Abende im Kölner Gürzenich und die Soiréen im Hause Ferdinand Hillers an, der damals das Kölner Musikleben dominierte. Auch Joseph Joachim, damals schon ein weitgereister und gesuchter Virtuose, gastierte regelmäßig in Köln, wo ihm Gernsheim seine c-Moll-Sonate vorstellte.

Das dreisätzige Werk stellt ein Andante an den Anfang, das Scherzo in die Mitte und bringt erst als Finale einen Allegrosatz. Stilistisch steht es Brahms und Max Bruch nahe, mit dem sich Gernsheim damals in Köln anfreundete.