"Groteske" | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Rudi Stephan

"Groteske"

„Groteske“

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 3266

Satzbezeichnungen

Erläuterungen

2004
RUDI STEPHAN
Groteske (1911)

„Was in den knapp 20 Minuten dieser Musik an Gehalt, Schöpferpotenz, Ausdruck und Können aufgespeichert, ist, seht so weit über allem, was wir sonst hörten, dass es keine Vergleichspunkte gibt.“ Dieses hohe Lob des Dresdner Anzeigers galt der Aufführung der Musik für Orchester von Rudi Stephan im Jahre 1913 – und sie lässt ahnen, welch hohen Verlust der frühe Tod des jungen Komponisten im Ersten Weltkrieg bedeutet. Erst nach der allmählichen Wiederentdeckung des schmalen erhaltenen -uvres gilt der in Worms geborene Stephan heute wieder als eine wichtige Komponistenpersönlichkeit mit individuellem Ausdruckswillen.

Nicht nur sein Tod auf dem Schlachtfeld, auch weitere unglückliche Umstände machen Rudi Stephan zu einer rätselhaften Figur: Sein kompletter Nachlass, aufbewahrt im Wormser Stadtarchiv, ging im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs unter, damit auch die frühen Partituren mit ihren Änderungen und Korrekturen, die Stephan immer wieder an ihnen vorgenommen hatte. Was von diesen Werken in den 20er Jahren im Mainzer Schott-Verlag erschienen war, hatte zuvor zahlreiche wohlmeinende Retouchen über sich ergehen lassen müssen, über die Korrekturen letzter Hand kann man keine Aussage mehr treffen.

Lediglich in der Partitur seiner einzigen Oper Die ersten Menschen lassen sich die intensiven Änderungen und Striche aus der Feder des Kompnisten lückenlos nachweisen. Sie vermitteln uns das Bild eines noch nicht endgültig geformten Künstlers auf der Suche nach einem Personalstil – die erhaltenen Werke belegen aber zweifelsohne Stephans Originalität im freien Umgang mit der musikalischen Tradition und gegenüber den zeitaktuellen Strömungen des Musiklebens
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Nach privaten Studien am Frankfurter Konservatorium bei Bernhard Sekles war Stephan 1906 zu Rudolf Louis nach München gewechselt. Doch schon mit seinem ersten größeren Werk wandte er sich gegen die damals vorherrschende Münchner Schule eines Thuille oder auch das erfolgreiche Schaffen eines Strauss: Sein Opus 1 für Orchester erhielt laut Stephans eigenem Kommentar „keinen poetischen Titel, nicht die Nennung ‚Tondichtung‘ und gar nichts“. Mit aller Schärfe distanzierte sich der junge Komponist somit nicht nur gegen die immer noch übermächtige und einschüchternde Gattung der Sinfonie, sondern auch gegen die damals so geläufige und vor allem auch äußerst erfolgreiche außermusikalische Programmatik in der Musik.

In seiner Tonsprache war Stephan dann doch ein Kind seiner Zeit: An bedeutenden Wegweisern lassen sich Bruckner, Reger und Wagner heraushören, Stephans Originalität bestand vor allem in der hochindividuellen Instrumentation, der freien und sehr speziellen Ausarbeitung der Themen und des formalen Verlaufes. Aus dem Verzicht auf programmatische Titel wurde Methode: Auf die Musik für Orchester folgte 1911, dem Jahr der Groteske, eine Musik für sieben Saiteninstrumente, 1913 schließlich eine Musik für Geige und Orchester.

In der Allgemeinen Musik Zeitung urteilt Heinz Tiessen: „In Rudi Stephans ‚Musik für Orchester‘ sitzt alles wie gegossen, knapp, schlagend, von einer musterhaften Konzentration, ohne auch nur einen einzigen überflüssigen Takt. Er hat nicht nur Technik und Elan, er hat Erfindung, aktive Gestaltungskraft.“ Kurz zusammengefasst las sich das Lob der Zeitgenossen auf die Erwartungen an Stephan wie folgt: „Die bedeutendste Kraft des jungen Deutschland“ – doch dieses Urteil war bereits einem Nachruf vorbehalten. Nahe dem südgalizischen Tarnopol starb Rudi Stphan in einem Schützengraben – als einziger seiner Einheit. Seine wenigen erhaltenen Werke lassen das Potential seiner kompositorischen Vision erahnen. In Gedenken an Rudi Stephan haben der SWR und die Landesstiftung Villa Musica einen Kompositionspreis für zeitgenössische Kammermusik ausgelobt, der von 2003 an alle drei Jahre verliehen werden soll.

Rudi Stephans Groteske – 1911 komponiert, aber erst 1979 aufgefunden – ist mit ihrer intensiven Thematik und ihren bizarren Klangkontrasten charakteristisch für ihn. Einsätzig wie die meisten seiner Werke, gliedert sie sich in die stürmischen Anfangs- und Schlussteile und einen langsamen Mittelteil, der zweimal von einem ironischen „Schatten eines Walzers“ unterbrochen wird. Unschwer erkennt man in der Groteske manche Entwicklung voraus, die andere Komponisten nach dem Krieg vollziehen sollten.