"Vedendo amor" | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Georg Friedrich Händel

"Vedendo amor"

„Vedendo amor“ Cantate per Alto solo, HWV 175

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 3389

Satzbezeichnungen

Erläuterungen

2004
G. F. HÄNDEL
Vedendo Amor, HWV 175

Vedendo Amor ist eine jener 52 Kantaten für eine Singstimme und Basso continuo, die Händel während seiner vier italienischen Jahre geschrieben hat. An diesem Genre vor allem delektierten sich die römischen Musiker und ihre Auftraggeber. Gerne wurde eine solche Kantate an einem Abend vollständig improvisiert. Einer der anwesenden Poeten entwarf zunächst ex improviso Verse, die dann sogleich von einem Maestro vertont und am Cembalo begleitet wurden, während einer der Sänger die gerade erst entstandenen Strophen und Noten vortrug. Immer geht es in diesen Miniaturen um die Liebe, und häufig genug um die verzweifelten Versuche eines Mannes, den Fängen des Liebesgottes zu entfliehen und frei zu bleiben.

Man sollte nicht vergessen, dass außer dem Hausherren der Cancelleria, Kardinal Ottoboni, auch zahlreiche andere anwesende Herrschaften „Porporati“, also Kardinäle waren. Die geistlichen Herren konnten ihre Liebschaften – gleichgültig ob mit Männern oder Frauen – vor dem nimmermüden römischen Tratsch zwar kaum verbergen, sie verklausulierten sie aber dennoch in gekünstelten pastoralen Situationen, in denen oft nicht ganz klar ist, was sich der Mann eigentlich ersehnt: von den Frauen verschont zu bleiben oder sich Hals über Kopf in die nächste Affäre zu stürzen. Die amerikanische Musikwissenschaftlerin Ellen Harris, Professorin am Massachussets Insitute of Technology, hat den unterschwelligen erotischen Botschaften der Händelkantaten einen aufregend zu lesenden Band gewidmet (Handel as Orpheus, Harvard 2001). Auch wenn man nicht jeder ihrer homophilen Deutungen von Händels Kantaten und schon gar nicht den Schlussfolgerungen für die erotischen Neigungen des Komponisten und seiner Mäzene zustimmen möchte, lehrt Harris‘ Buch doch zumindest, die kleinen, prickelnden Situationen, die Händels Kantaten schildern, ernster zu nehmen, als sie scheinen.

Der Held von Vedendo Amor hat sich allzu lange an seiner Freiheit erfreut: In einem unbedachten Moment ging er Amor ins Netz, wie er schon zu Beginn im Rezitativ klagend berichtet. In gewundenen Moll-Linien und gebrochenen Septakkorden hat Händel in der ersten Arie das kühle Dunkel des Waldes eingefangen, in dem sich der Schäfer eines Nachts zur Ruhe bettet. Die Chromatik des Mittelteils freilich verrät, dass es eine trügerische Ruhe ist, in der sich unser Held sicher wähnt. Der Liebesgott scheut weder Wald noch Nacht. In pastoraler Verkleidung schleicht er sich an den Schlafenden heran, und er hat eine schöne Schäferin, Eurilla, mitgebracht, die die Fackel des Heiratsgottes Hymen in einer Laterne mit sich führt – Symbol für das, was den Schäfer erwartet. Eurilla schleicht mit der Laterne in der Hand durch den nächtlichen Wald – im Trott eines „gehenden“ Andante-Basses, der die zweite Arie durchzieht (Camminando piano, piano). Endlich entdeckt sie den Schläfer und spendet ihm im Mittelteil geheucheltes Mitleid in Form ironischer Chromatik.

Amor freilich macht kurzen Prozess. Er schießt, trifft und erschreckt den Schäfer so sehr, dass es Eurilla und dem Liebesgott nicht schwerfällt, ihn zu überwältigen. Im triumphalen D-Dur-Allegro der letzten Arie wird er als Gefangener abgeführt. In seiner Londoner Oper Alessandro hat Händel aus diesem unscheinbaren Continuo-Satz eine seiner glänzendsten Koloraturarien hervorgezaubert: Aus dem Lachen der Eurilla (Rise Eurilla) wurde das Leuchten im Herzen der Prinzessin Rossane (Brilla nell’alma). Das kurze Schlussrezitativ setzt der Kantate die bissige Pointe auf: Im Käfig der Liebe sitzt der Mann gefangen und singt und singt und singt… Für einen Kastraten der päpstlichen Kapelle war dies kein unzutreffendes Sinnbild, obwohl er seinen goldenen Käfig weniger dem Liebesgott verdankte als anderen Umständen.