Organa und Conductus | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Perotinus Magnus

Organa und Conductus

Organa und Conductus aus der Zeit um 1200

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 3658

Satzbezeichnungen

Erläuterungen

2005 RheinVokal

Klingendes Maßwerk

Um 600, nach den kontinentalen Verwirbelungen der Völkerwanderung, kam es zu einer vergleichsweise ruhigen Phase in Europa. Grund genug für Papst Gregor I., sich an eine längst überfällige Reform kirchlicher Strukturen zu begeben.

Weit oben auf seiner Agenda stand die Vereinheitlichung der Choräle, die sich in einzelnen Provinzen sehr unterschiedlich entwickelt hatten. Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern (es muss ein vielköpfiges Team gewesen sein) gelang es ihm schließlich, ein Graduale zu erstellen: ein Buch, das die nach wie vor einstimmigen liturgischen Gesänge dem Wort und der Melodie nach (so weit es die damalige Notation zuließ) verbindlich fixierte. Aus dem historisch verbürgten Vorgang erwuchs mit der Zeit die Legende, Papst Gregor I. seien die Choräle vom Heiligen Geist gewissermaßen diktiert worden. Ihre als göttlich erkannte Natur führte allerdings ? musikhistorisch betrachtet ? zu einer Stagnation: Jahrhunderte lang blieben die gregorianischen Choräle nahezu unverändert, aus Respekt vor Gott, dem creator omnium als einzig wahrem Schöpfer.

Nur mit größter Behutsamkeit ergänzte und variierte man das liturgische Repertoire. So reicherten die Kantoren noch vor der Jahrtausendwende die Melodien des Graduale an, indem sie parallel zu ihnen ? im Abstand einer Quarte, Quinte oder Oktave ? eine zweite Stimme sangen: Das sogenannte Quart-Organum entstand, eine frühe Form der Mehrstimmigkeit. Etwa zweihundert Jahre später, ab 1150, tauchten die ersten Beispiele einer weitaus komplexeren, nicht mehr improvisierten, sondern komponierten Polyphonie auf. Ihr bedeutendstes Zentrum war ? neben dem berühmten Wallfahrtsort Santiago de Compostela ? die Universitätsstadt Paris, mit ihren etwa 100.000 Einwohnern die größte Kapitale der Welt. Hier, an der zwischen 1160 und 1250 im gotischen Stil erbauten Stadtkirche Notre-Dame de Paris, wirkten zwei ? erstmals auch namentlich bekannte ? Komponisten. Sie schrieben als Leonin und Perotin Musikgeschichte.

Ihre Organa basierten zwar weiterhin auf den gregorianischen Gesängen, aber sie behandelten diese auf eine ebenso neue wie kunstvoll-differenzierte Weise. Leonin und Perotin gliederten den jeweils ausgewählten Choral in Sinn-Abschnitte, Klauseln genannt. Einige dieser Klauseln beließen sie in der traditionellen Einstimmigkeit. Abschnitte aber, deren Bedeutung sie unterstreichen wollten, kleideten sie polyphon ein. Dabei unterschieden sie zwei Arten: – War der ausgewählte Abschnitt des gregorianischen Gesangs syllabisch (hatte pro Silbe also einen Ton), dehnten sie die einzelnen Töne ins quasi Unendliche. Über diesen Haltetonpartien errichteten sie dann ein, zwei oder gar drei im schnellen Dreier-Rhythmus “swingende” Stimmen. – War der ausgewählte Abschnitt des gregorianischen Gesangs jedoch melismatisch (hatte pro Silbe also mehrere Töne), verzichteten Leonin und Perotin auf die Dehnung der einzelnen Töne. In diesem Fall gliederten sie den Vorrat der Choraltöne in Dreier- oder Viergruppen, denen jeweils das gleiche, sich also wiederholende rhythmische Muster (die sogenannte ordo) zugrunde lag. Die hinzutretenden Stimmen passen sich diesem Rhythmus an. Solche Abschnitte heißen heute Diskantuspartien.

In Perotins vierstimmigem Organum Viderunt omnes finden wir beide Formen gleich hintereinander. Der entsprechende Abschnitt des gregorianischen Chorals beginnt syllabisch: vi-de-runt, pro Silbe ein Ton. Also wird jeder dieser Töne ins quasi Unendliche gedehnt: Vi_________. Über dem “vi-” entfalten sich nun die von Perotin komponierten Oberstimmen: eine Art schwebender, von tänzerischer Leichtigkeit lebender Gesang. Nach etwa einer Minute erklingt die zweite Silbe: -de_________. Über dieser Silbe erneut schwebender Gesang. Schließlich: ?runt________.

Das nächste Wort des gregorianischen Chorals, om-nes, ist hingegen melismatisch vertont: pro Silbe mehrere Töne (ohohohohom-nes). Die Töne werden jetzt relativ straff rhythmisiert. “Viderunt omnes fines terrae” lautet der vollständige, das Weltende verkündende Vers des gregorianischen Chorals. Entsprechen also dem “Viderunt” eine Haltetonpartie und dem “omnes” eine Diskantuspartie, so kehrt Perotin beim “fines” zum einstimmigen Choral zurück.

Der Wechsel von längeren Halteton- und kürzeren Diskantuspartien sowie zwischen Ein- und Mehrstimmigkeit bestimmt auch das Profil des ebenfalls vierstimmigen Organums Sederunt principes. Perotin komponierte es für den Namenstag des Heiligen Stephanus, des zweiten Schutzpatrons der Pariser Kathedrale: Immerhin besaß Notre-Dame de Paris mehrere als Reliquien verehrte Steine, mit denen der Märtyrer zu Tode gebracht worden sein soll. Das Organum Sederunt principes zählt ? gemeinsam mit Viderunt omnes ? nicht nur zu den ersten vierstimmigen Kompositionen der Musikgeschichte, es erlangte durch Umberto Ecos 1980 erschienenen Bestseller Der Name der Rose auch eine Art Kultstatus. Als Adson von Melk, der Protagonist des Romans, in einem klösterlichen Gottesdienst ein Organum hört, greift Eco ? ein geschickter Inszenator historischer Fundstücke ? offenkundig auf eine Beschreibung von Perotins Sederunt principes zurück:

“Langsam und feierlich begann auf der ersten Silbe se ein mächtiger Chor von Dutzenden und Aberdutzenden tiefer Stimmen, deren gleichbleibender Grundton das Kirchenschiff füllte und sich hoch über unsere Köpfe erhob, wiewohl er aus dem Herzen der Erde zu kommen schien. Auch brach er nicht ab, als andere Stimmen einsetzten, um über diesem tiefen und kontinuierlichen Halteton eine Reihe von Vokalisen und Melismen zu knüpfen, sondern blieb … so lange liegen, wie ein geübter Vorsänger braucht, um getragen und mit vielen Kadenzen das Ave Maria zu singen. Und wie befreit durch das Grundvertrauen, das jene beharrlich ausgehaltene Silbe ? Allegorie der ewigen Dauer ? den Sängern einflößte, errichteten andere Stimmen auf diesem Felsengrunde nun Säulen und Giebel und Zinnen aus liqueszierenden und subpunktierten Neumen. … Bis schließlich jenes neptunische Brausen eines einzigen Haltetons besiegt, oder jedenfalls gebändigt und übertönt wurde durch den hallelujatischen Jubel der Oberstimmen, um sich aufzulösen in einem majestätischen, vollendet reinen Akkord … Nachdem das sederunt derart ausgesprochen, ja fast mit dumpfer Qual herausgepreßt worden war, erklang nun das principes in großer seraphischer Ruhe. “

Der von Umberto Eco angesprochene allegorische Charakter des Organums prägt das gesamte Werk von Leonin und Perotin, den führenden Vertretern der sogenannten Schule von Notre-Dame. Die Bevorzugung von Dreier-Rhythmen spiegelt Gottes Dreifaltigkeit wider. Die Tatsache, dass die Haltetöne die Dauer des menschlichen Atems übersteigen, verweist auf das Jenseits. Das Moment des Transzendentalen, das Leonin und Perotin offenkundig anstrebten, verstärkte der gotische Kirchenraum, in dessen Weiten sich die akustischen Konturen aufzulösen scheinen. Um die Wirkung des “Nicht-von-dieser-Welt-Seins” zusätzlich zu überhöhen, bediente man sich in Notre-Dame an hohen Festtagen übrigens eines beeindruckenden theatralischen Mittels: Der illuminierte Chorraum, in dem sich die Schola versammelte, wurde vom eher dunklen Hauptschiff durch einen halbtransparenten Vorhang abgetrennt, so dass die Sänger nur noch als Silhouetten wahrnehmbar waren ? als seien sie überirdische, engelhafte Wesen.

Die beinahe revolutionäre Kühnheit, mit der Leonin und Perotin die gregorianischen Gesänge bearbeiteten, findet eine Parallele in der Baukunst jener Jahrhunderte. Die Schlichtheit der römisch-katholischen Choräle entsprach der Baukunst der Romanik, die eher einfache Grundrisse und Proportionen bevorzugte. Der virtuose Duktus der Notre-Dame-Organa aber, ihre zur Formelhaftigkeit neigende Rhythmik, darf als Äquivalent zur gotischen Architektur betrachtet werden: Deren typische, von einem feinen Geäder durchzogene, die Konturen auflösende Fenster- oder Wandgliederungen, die man Maßwerk nannte, weil sie geometrische Grundmuster (etwa den flammenähnlichen Schneuß) formelhaft wiederholen, könnte man als geronnene Klänge verstehen, als steingewordene, gotische Polyphonie.

Matthias Henke

2002
MUSIK DER KATHEDRALEN
von Gordon Jones

Fast genau 800 Jahre liegen zwischen Perotins Viderunt omnes und Stephen Hartkes Cathedral in the thrashing rain, und doch haben sie eine gemeinsame Wurzel in der Pariser Kathedrale Notre-Dame, genauer gesagt: in dem Notre-Dame von heute und jener Kirche, die im 12. Jahrhundert an der selben Stelle stand. Hartkes Vertonung eines Gedichts von Takamura Kotaro, das die Schönheit von Notre Dame preist, ist auch musikalisch der Welt von Perotin verbunden. Wir können darin Echos der rhythmischen Modi hören, die Perotin in seiner eindrucksvollen Vertonung des Weihnachtshymnus Viderunt omnes verwendete.

Während Hartke eine englische Übersetzung des japanischen Gedichts benutzte und nur einzelne Zeilen des Originals zitierte, ist Ken Uenos Shiroi Ishi vollständig in Japanisch. Der Komponist und Dichter erklärte uns, das die erste Silbe des Wortes “Shiro”, das “Shi”, die unterschiedlichsten Bedeutungen haben kann: “Vier” für die Zahl der Ausführenden, “Tod”, aber auch “Dichtung”. Uenos Werk gehörte wie Jonathan Wilds Wreath of Stone zu den Stücken, die von Graduate Students der Harvard University komponiert wurden, als das Hilliard Ensemble dort zu Beginn des Jahres 2001 ein Gastseminar gab.
Wreath of Stone verweist auf eine andere große französische Kathedrale: Tournon. 1610 fanden dort die Trauerfeierlichkeiten für den ermordeten König Heinrich IV. von Frankreich statt. Der Text von Wilds Stück gehörte zu den Trauerreden, die bei dieser Gelegenheit verlesen wurden. Es ist ein kurioser Epitaph: Wenn der griechische Text in der richtigen Akustik – derjenigen der Kathedrale von Tournon – gelesen wird, ergeben die letzten Silben jeder Zeile ein Echo auf Französisch! Daraus entsteht ein kürzeres Gedicht, ebenfalls auf den Tod König Heinrichs. Als ob dies nicht schon der Kunstfertigkeit genug wäre, ergeben die Anfangsbuchstaben der verschiedenen Zeilen auf Griechisch auch noch ein Akrostichon: Errikos Borbonis – Henry Bourbon, der dynastische Name von Heinrich IV.

Ergone conticuit, vermutlich von Johannes Lupi komponiert, ist ebenfalls ein Epitaph, und zwar auf den Komponisten Johannes Ocke-ghem. Der Text, den Erasmus von Rotterdam ein Jahrzehnt nach Ockeghems Tod dichtete, enthält Anspielungen auf Architektur:

Obmutuit vox aurea Okegi
Per sacra tecta sonans.
(Verstummt ist Ockeghems
goldene Stimme, die durch die
heiligen Hallen erschallte.)

Prima mundi und Oi Dex! Quam brevis entstammen einem Manuskript aus der Sammlung der Abteikirche Saint-Martial in Limoges ? die dritte große Kathedrale Frankreichs in diesem Programm. Prima mundi erzählt vom Sündenfall der ersten Menschen und von der Erlösung durch die Menschwerdung Gottes, was uns zum Weihnachtsereignis zurückführt, wie es Perotin in Viderunt omnes geschildert hat. Oi Dex! Quam brevis ist eine Betrachtung über die Vergänglichkeit des Lebens.

Josquins Tu solus qui facis mirabilia und Luca Belcastros La voce delle creature betrachten beide auf sehr unterschiedliche Weise die Schöpfung: Josquins Werk voller Vertrauen in dogmatische Grundsätze, Luca Belcastros Stück als Vertonung einer fragenden, introvertierten Passage aus den Confessiones des Hl. Augustinus. Dieses Stück gehörte bei der Biennale in Hannover 2001 zu den Preisträgerwerken.

KIRCHEN & KOMPONISTEN

Ein Programm, das den großen Kathedralen des Mittelalters in Wort und Ton huldigt, ist so ungewöhnlich, dass es sich lohnt, etwas länger bei der Historie und den Bauten zu verweilen. Gordon Jones vom Hilliard Ensemble nannte in seiner eingangs zitierten Einführung drei französische Kathedralen, denen dieses Programm gewidmet sei: Notre-Dame in Paris, Saint-Martial in Limoges und die Kathedrale von Tournon. Tatsächlich führen uns die Komponisten der Stücke noch in andere herrliche Kirchen des Mittelalters, die zugleich musikalische Zentren waren.

PEROTIN IN NOTRE-DAME

Zum Weihnachtsfest 1198 erließ der Bischof von Paris, Eudes de Sully, zwei Dekrete, die dem unsittlichen Betragen während der Feiertage nach Weihnachten vorbeugen sollten. In den Gottesdiensten dieser Festtage waren genaue Vorschriften zu beachten, zu denen auch musikalische gehörten. So sollten etwa im Hochamt zum Festtag der Beschneidung Christi, dem 1. Januar, das Graduale und das Alleluja “in drei- oder vierstimmigen Organa gesungen werden, und zwar von vier Männern während der Teilnahme an der Prozession”.
Das Graduale zum Fest der Beschneidung ist nichts anderes als das Viderunt omnes, mit dem unser Konzert beginnt. Vermutlich war es eben jenes vierstimmige Organum des “großen Perorin”, auf das der Pariser Bischof anspielte. Diese Musik ist wohl von vier Klerikern bei der Prozession in der Kathedrale Notre-Dame am Neujahrstag 1199 gesungen worden.

Strenge Medievisten würden gegen diese verkürzte Darstellung der Ereignisse vielleicht protestieren. Sicher ist aber, dass nicht nur der Bischof von Paris vom neuartigen vierstimmigen Gesang in seiner Bischofskirche so fasziniert war, dass er ihm einen festen Platz in der Liturgie einräumte. Auch der Theoretiker Anonymus IV erwähnt das vierstimmige Viderunt omnes des Perotin als eine ganz neue Art von Musik. Mit ihr beginnt an der Wende zum 13. Jahrhundert die Mehrstimmigkeit in des Wortes eigentlicher Bedeutung: ein nicht stereotypes, sondern höchst wandlungsfähiges Zusammenspiel von vier gesungenen Linien, die sich zwischen Quart- und Quintklängen als Achsen und Durchgangsdissonanzen in freier Bewegung trennen und wieder vereinen. Wer der Mann war, der diese revolutionären Zusammenklänge schuf, ist bis heute unklar; vielleicht ein Kleriker und Sänger an Notre-Dame namens Pierre, vielleicht ein Pariser Theologe.
SAINT-MARTIAL

Den Heiligen Martial verehren die Franzosen als einen ihrer nationalen “Apostel”. Zusammen mit Saint-Denis, der die Region um Paris christianisierte, und fünf anderen Bischöfen, darunter Saint-Trophime für Arles, wurde er im 3. Jahrhundert von Rom aus losgeschickt, um Gallien zu missionieren. Martial kam ins Limousin, die Region um das heutige Limoges, und schon bald nach seinem Tode hatten ihn Heiligenlegenden dieser Gegend zu einem Schüler des Hl. Petrus und damit zu einem Apostel des 1. Jahrhunderts gemacht. Mit solchen Weihen ausgestattet, wurde er zum Gründervater für eines der bedeutendsten Pilgerzentren im mittelalterlichen Frankreich, das zugleich ein Musikzentrum war: die Abteikirche Saint-Martial in Limoges. Dank “ihres” Apostels wurde sie schon früh zum Gegenstand der Wallfahrt und gläubigen Verehrung. Zudem knüpfte sich an die Gestalt eines so bedeutenden Heiligen ein erhebliches geistlich-weltliches Machtpotential, das die Mönche mit Selbstbewusstsein ausschöpften.

Neben zahllosen anderen Schätzen häuften sie 214 Handschriften mittelalterlicher Musik an. Die Welt wurde auf diesen Schatz erst 1730 aufmerksam, als 204 Bände aus dem Archiv an die königliche Bibliothek in Paris verkauft wurden. Es war die Geburtsstunde eines Begriffs, der die Geschichtsbücher bis heute füllt: der “Schule von Saint-Martial”.

Unklar ist, ob die Mönche in Limoges lediglich Abschriften auswärtiger Musik sammelten oder ob sie tatsächlich eine musikalische “Schule” begründeten, die sich mit der Pariser “Schule von Notre-Dame” um Leonin und Perotin messen ließe. Im Falle anderer großer Kathedralen musste man solche Schulen als historische Konstrukte aufgeben, etwa die sogenannte “Schule von Chartres”.

Trotz der unsicheren historischen Zusammenhänge bleibt Saint-Martial einer der ganz großen Begriffe mittelalterlicher Musik. Charakteristisch für die dort überlieferten Handschriften sind besondere Techniken des Organums. Im Gegensatz zu Paris mit seinem Organum für drei oder vier Stimmen war in Limoges offenbar das ältere zweistimmige Organum in Gebrauch. Dabei fällt die starke Ornamentik der “organalen” Stimme auf, die zur vorgegebenen Stimme, dem “Tenor”, hinzutritt. Bis zu zwanzig Noten der ersteren kommen auf eine Note des letzteren. Dies verleiht der Musik von Saint-Martial eine gotische Großartigkeit.
LUPI IN CAMBRAI

Um drei Jahrhunderte nach vorn, an die Grenze zwischen 15. und 16. Jahrhundert, führen uns die nächsten Stücke Alter Musik: zwei Vokalsätze von Johannes Lupi und Josquin Desprez.

Der franko-flämische Komponist Johannes Lupi wirkte an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit an der Kathedrale von Cambrai. Dabei handelte es sich um eine der größten gotischen Kirchen Frankreichs, gepriesen als das “Wunder der Niederlande”, bis sie in der Französischen Revolution der Wut der Massen zum Opfer fiel. Die geographische Lage von Cambrai an der Grenze zwischen Frankreich und den südlichen Niederlanden, dem heutigen Belgien, brachte Lupi in engen Kontakt mit den niederländischen Humanisten um Erasmus von Rotterdam. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass er es war, der Erasmus’ Trauergedicht auf den größten Komponisten der Epoche, Johannes Ockeghem, vertonte.

Auch Ockeghem wirkte in Nordfrankreich und Belgien, in Tours und Brügge. Als er 1497 starb, wurde er von vielen Dichtern und Musikern betrauert. Erasmus spickte seine Naenie mit mythologischen Anspielungen, die den Humanisten und Antikenkenner ausweisen. Zu welchem Anlass Lupi seine Vertonung aufführte, ist leider nicht bekannt.

JOSQUIN IN MODENA

Wer die Kathedralen Norditaliens durchstreift, wird immer wieder auf riesige Notenpulte treffen, die nach drei Seiten ausgerichtet sind und Platz für überdimensionierte Notenbücher bieten. Auf manchem dieser Pulte liegt noch eines der Chorbücher aufgeschlagen, so dass man der Historie zum Greifen nahe kommt. Aus diesen riesigen Follianten sangen die Musiker des jeweiligen Duomo bei der Messe den gregorianischen Choral im Wechsel mit mehrstimmiger Chormusik.

In einem solchen Chorbuch der Kathedrale von Modena findet sich die einzige erhaltene Abschrift der Motette Tu solus, qui facis mirabilia von Josquin Desprez. Der berühmteste Komponist der Hochrenaissance, den Luther bewundernd “der Töne Meister” nannte, war mit der Praxis der Chorbücher wohl vertraut. Er diente Jahrzehnte lang selbst als Sänger, zunächst beim Herzog von Mailand, später in Rom, Ferrara und in den Loireschlössern des französischen Königs. Seine Vita lässt sich mit der seines Zeitgenossen Leonardo da Vinci vergleichen, ebenso seine Bedeutung für die neue Schönheit der Linie und der Farbe in der Kunst der Renaissance. Josquin benutzte dafür freilich nicht Pinsel und Zeichenstift. Seine Mittel waren die Singstimme und der Federkiel des Komponisten.

Beides hing bei ihm eng zusammen. Mattheson berichtet, dass Josquin eine neu komponierte Motette zunächst mit seinen Sängerkollegen ausprobierte, um danach alles zu ändern, was nicht gut klang. Angesichts der Kunstfertigkeit, mit der sein Federkiel die kompliziertesten Kanons in den vierstimmigen Satz hineingeheimniste, mutet solcher Praxisbezug fast unglaublich an.

LE ROUGE IN ROUEN

Ein Jahrhundert vor den großen Motetten eines Josquin und Lupi begann in den franko-flämischen Regionen jener Stilwechsel, den wir mit dem Begriff der “Niederländer” verbinden. Die Musikkenner der Zeit um 1420 nannten den Franzosen Guillaume Le Rouge in einem Atemzug mit den berühmtesten Meistern der Epoche, Dufay und Binchois. Sein Wirken fällt in die Zeit des Hundertjährigen Krieges, in der große Teile Frankreichs von den Engländern besetzt waren. Le Rouge stand als Organist an der Kathedrale von Rouen zunächst auf der französischen Seite, bevor er als Sänger, Komponist und Schreiber in den Dienst des Herzogs Philipp des Guten von Burgund trat. Als solcher erlebte er aus nächster Nähe Aufstieg und Fall der Jungfrau von Orléans. Das lothringische Bauernmädchen, dessen Vision wie ein Ruck durchs besetzte Frankreich ging, wurde nach der Eroberung Orléans’ von den Burgundern schlicht an die Engländer verkauft. In dem selben Jahr 1431, in dem Le Rouge zum zweiten Mal in die Kapelle des Herzogs eintrat, wurde Jeanne d’Arc in Rouen auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Gerne wüssten wir mehr darüber, wie Le Rouge den Prozess gegen sie erlebte, doch von seinen viel gepriesenen Werken haben sich nur zwei erhalten: eine Messe und die hier gesungene dreistimmige Bergerette Se je fayz dueil. In ihrem schmerzlichen Duktus kann uns diese Chanson eine Vorstellung von den Ängsten geben, die die Zeit bewegten.

MODERNE STÜCKE FÜR DIE HILLIARDS

Die vier modernen Werke dieses Programms wurden für das Hilliard Ensemble geschrieben ? von Komponisten, die zwischen 1952 und 1970 geboren wurden. Sie geben einen Überblick über verschiedenste Techniken der modernen Vokalmusik.
Der 50jährige Stephen Hartke ist der älteste und erfahrenste der Gruppe, ein Aushängeschild der modernen amerikanischen Musik. Der Kritiker Paul Griffiths nannte ihn in der New York Times einen der “jungen Löwen” Amerikas. Hartkes Musik spiegelt die Vielfalt seiner musikalischen Erfahrungen wieder ? von der Polyphonie des Mittelalters und der Renaissance, die er als Sänger im Konzertsaal selbst aufführte, bis hin zu einer ganz eigenwilligen Synthese von Stilelementen der nicht-westlichen und der populären Musik. Seit er sich in den 80er Jahren in Kalifornien niederließ ? er unterrichtet als Professor an der University of Southern California ? sind seine Kammer- und Orchesterwerke von einigen der bedeutendsten Ensembles und Orchester der USA aufgeführt worden.

Luca Belcastro gehört zu den erfolgreichsten italienischen Komponisten der jüngeren Generation. 1964 in Como geboren, studierte er in Mailand Gitarre und in Piacenza Komposition. Zahlreiche Auszeichnungen bei internationalen Wettbewerben in den letzten sechs Jahren begleiteten seine Karriere: 1996 in Rom beim Wettbewerb Valentino Bucchi, 1997 in Bologna, 1998 beim EU-Wettbewerb für junge Komponisten, 1999 in Hitzacker und Turin, um nur einige zu nennen. Seine Werke wurden bei verschiedenen Fetivals für Zeitgenössische Musik sowohl in Italien (Nuova Consonanza in Roma, Di Nuovo Musica in Reggio Emilia, Rive-Gauche in Torino, Traiettorie Sonore in Como u.a.) als auch in Ausland (USA, Portugal, Spanien, Irland, England, Deutschland) aufgeführt.

Jonathan Wild und Ken Ueno gehörten zu einer Gruppe von Harvard-Studenten, die gebannt lauschten, als das Hilliard Ensemble Anfang 2001 an Amerikas ältester Universität gastierte. Beide schrieben im Rahmen des Seminars Werke für die Hilliards, von denen Wilds Wreath of Stone den Francis Boott Prize der Harvard University erhielt. Der 33jährige Kanadier Jonathan Wild studierte zunächst in Montreal bei Bruce Mather und Bengt Hambraeus. Zur Zeit arbeitet er an seiner Doktorarbeit an Harvard und unterrichtet Harmonielehre an Brown University. Ein Stipendium ermöglicht ihm die Teilnahme an der diesjährigen Hilliard Summer School in Schloss Engers. Über die Besonderheiten von Wilds Stück Wreath of Stone und seines obskuren Textes hat schon Gordon Jones eingangs berichtet.

Ken Ueno war zuerst Kadett in West Point und Mitglied einer Ski Patrouille, bevor er ans Berklee College ging, um Musik zu studieren. Zur Zeit schreibt er seine Dissertation an Harvard, wo er auch das Ensemble für Neue Musik leitet. Wenn es darum geht, Neue Musik dem Publikum näher zu bringen, wählt er unkonventionelle Wege. Im Fernsehen präsentiert er als “DJ Moderne” jede Woche eine halbe Stunde lang zeitgenössische Musik. Passanten in der Bostoner U-Bahn kennen ihn als Leiter der Gruppe Cambridge Underground Music Manifesto. Er benutzte elektronisch verstärktes Spielzeug, Wasserschaufeln und Schreibmaschinen für seine Musik, ganz abgesehen von seinem Hang zur E-Gitarre. Die neuesten Trends der elektronischen Latino-Musik gehören zu seinen Lieblingsthemen. “Abgefahren” wie sein Auftreten ist auch seine Musik, die zwischen Seriösem für die Hilliards und Experimentellem unverkrampft hin- und herpendelt.

Karl Böhmer