Sonatina | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Sándor Veress

Sonatina

Sonatina (1957)

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 3897

Satzbezeichnungen

1. Allegro giocoso

2. Andante – Allegretto – Tempo I

3. Grave – Allegrissimo
(tanto allegro, quanto è possibile)

Erläuterungen

HEITERE MINIATUREN für drei Bläser

Obwohl alle drei Instrumente seit dem Barock zum festen Bestand der Kammermusik gehörten, fanden sich Oboe, Klarinette und Fagott erst im 20. Jahrhundert zu einer eigenen Triobesetzung zusammen. Ihr französischer Name Trio d’anches leitet sich vom Schilfrohr (anche) her, aus dem die Rohrblätter der drei Instrumente geschnitten sind. Auf dieser Verwandtschaft beruht auch der gemeinsame Ensembleklang. Ausgekostet haben ihn erst die Komponisten des 20. Jahrhunderts. Die „Goldenen 20er-Jahre“ sind in unserem Programm durch einen veritablen Charleston von Schulhoff vertreten, die Nachkriegszeit durch Werke des Polen Tansman und des Ungarn Veress. Es liegt in der Natur der Bläsermusik, dass diese Werke einen heiteren Charakter tragen, wie schon die Titel verraten, etwa Allegro giocoso bei Veress, Scherzino bei Tansman, Divertissement bei Schulhoff.
Heitere Miniaturen für drei Bläser sind auch die Divertimenti, KV 439b, von Mozart. Ursprünglich für drei Bassetthörner (tiefe Klarinetten in F) gedacht, kann man sie unschwer für Oboe, Klarinette und Fagott arrangieren, und viele Mozartkenner sind der Meinung, dass sie zu Mozarts gelungensten kleineren Werken zählen.

WOLFGANG AMADÉ MOZART
Zwei Divertimenti aus KV 439b

Während Mozart als junger Komponist in Salzburg eine ganze Reihe von Divertimenti, also Gesellschaftsmusiken in der österreichischen Tradition, geschrieben hat, sind aus seiner Wiener Zeit (1781-1791) nur wenige solcher Werke überliefert. Zu ihnen gehört die Werkgruppe KV 439b, eine Sammlung von 25 Einzelstücken für drei Bassetthörner, die in der heutigen Aufführungspraxis meist zu fünf Divertimenti in der traditionellen fünfsätzigen Form Allegro-Menuett-Adagio-Menuett-Rondo zusammengestellt werden. (Man kennt die gleiche Musik auch in Klavierbearbeitungen unter dem Namen „Wiener Sonatinen“.) Günther Passin und das Trio d’anches entschieden sich für Divertimenti Nr. 1 in viersätziger Fassung und Nr. 4 in fünf Sätzen mit dem langsamen Satz in der Mitte. Die prachtvollen Allegro-Kopfsätze, die raffinierten Menuette und schmissigen Rondofinali wirken wie Miniaturausgaben von Mozarts Sinfonie- oder Serenadensätzen. Besonders hinter den langsamen Sätzen verbergen sich wahre Perlen mozartscher Kammermusik, ein Experimentierfeld, in dem sich die Bläsereffekte seiner Wiener Opern und Klavierkonzerte bereits ankündigen.
Mozart komponierte diese Stücke um 1783 für seinen Hausfreund Anton Stadler, den ersten Klarinettisten der kaiserlichen Hofkapelle, dem er später auch sein Klarinettenkonzert und -quintett auf den Leib schrieb. Stadler, eine Art Faktotum der Familie Mozart, hieß im Jargon des Komponisten scherzhaft „Ribislgesicht“ (zu deutsch: Johannisbeergesicht), was den jovialen Umgang der beiden belegt.

Das Spiel auf dem Bassetthorn, das um 1770 in Augsburg erfunden worden war, war eine Spezialität Stadlers. Zusammen mit seinem Bruder und einem weiteren Klarinettisten gründete er ein Bassetthorntrio, für das Mozart die besagten 25 Stücke komponierte, wohl zur abendlichen Unterhaltung im Freundeskreis. Um die Stücke besser verkaufen zu können, bearbeiteten die Verleger des frühen 19. Jahrhunderts die Unterstimme für Fagott und die Oberstimmen für Klarinetten. Ersetzt man die erste Klarinette durch eine Oboe, erhält man die Besetzung eines Trio d’anches.

ALEXANDRE TANSMAN
Suite pour Trio d’Anches

Alexandre Tansman, Franzose polnischer Abstammung und ein enger Freund Igor Strawinskys, machte gleichermaßen als Pianist wie Komponist Karriere. Mit 23 sandte er zwei Werke zum Polnischen Nationalwettbewerb ein, und zwar unter verschiedenen Pseudonymen. Seine Violinsonate bekam den ersten, seine Klaviersonate den zweiten Preis. Es war der spektakuläre Auftakt zu einer Komponistenlaufbahn, die ihn nach Paris, in den fernen Osten und immer wieder in die USA führte. Von der Musik Chopins ausgehend, verarbeitete Tansman in Paris zunächst Einflüsse von Ravel und Strawinsky, bevor er sich der leichteren Ästhetik der Groupe des Six anschloss. Man hat ihn, was seine Klangsprache anbelangt, mit Darius Milhaud verglichen, was auch zum heiteren Tonfall seiner Suite für Bläsertrio passt. Die Namen der drei Sätze – „kleines Scherzo“, „Dialog“ und „Finale“ – sprechen für sich.

SÁNDOR VERESS
Sonatina

Als der ungarische Komponist Sándor Veress im März 1992 85jährig in Bern verstorben war, nannte ihn Siegfried Schibli in der Neuen Zeitschrift für Musik eine „musikalische Vermittlerfigur von Ausnahmerang… Zu verdanken war dies einerseits einer mehrfachen Begabung als Komponist, Musikforscher und Lehrer – und andererseits seinem politischen Schicksal, das den am 1. Februar 1907 im siebenbürgischen Kolosvár (Klausenburg, heute Cluj) geborenen Veress 1949 in die Emigration nach Bern trieb, wo er bis zu seinem Lebensende blieb. In Bern unterrichtete er so wesensverschiedene Musiker wie Heinz Holliger, Jürg Wyttenbach, Hans Wüthrich, Roland Moser und Urs Peter Schneider. Noch in hohem Alter wirkte er an der Berner Universität als Professor für Musik-ethnologie und Musik des 20. Jahrhunderts – eine seltene Einheit von praktischer und theoretischer Befähigung.

Gerade die Vielfalt seiner Interessen und Neigungen – Veress hatte als Volksliedforscher in der Tradition von Bartók und Kodály begonnen – scheint der Durchsetzung seines eigenen musikalischen Werkes im Weg gestanden zu haben. Hinzu kam die relativ isolierte Lage des ‚Stützpunkts‘ Bern. So entstanden zwar seit 1931 rund siebzig Werke von schlichten Volksliedbearbeitungen bis hin zu komplexen, frei mit Zwölftontechnik und erweiterter Tonalität arbeitenden Sinfonien, Klarinetten- und Violinkonzerten. Aber vieles blieb ungedruckt und ungespielt… Jetzt werden Veress‘ bedeutendste Schüler, unter ihnen die Ungarn György Ligeti und György Kurtág, sicherlich Tombeau- und Threnos-Stücke auf ihren großen Lehrer schreiben. Daran, dass der große Melodiker und Rhythmiker Veress durch den Strom der Musikgeschichte an den Rand gespült worden ist, wird sich vermutlich aber nichts mehr ändern.“

Seiner Sonatina für Bläsertrio aus dem Jahre 1957 gab Veress die dreisätzige Form schnell- langsam-schnell. Der erste Satz ist von ungarischen Volkstänzen inspiriert, im zweiten werden gesangliche Qualitäten in den Außenteilen einem kecken Spiel mit Akzenten und Vorschlägen im Mittelteil gegenübergestellt. Das Finale mit der Tempoanweisung „so schnell wie nur möglich“ besticht durch seine atemberaubenden Taktwechsel und das Klangspiel mit Tonrepetitionen.

ERWIN SCHULHOFF Divertissement

Trotz seines Titels Divertissement und der provokant-ironischen Art, mit der er eingelöst wird, berührt Erwin Schulhoffs Bläsertrio aus dem Jahre 1927 auch tragische Seiten der Geschichte unseres Jahrhunderts. Schulhoff wurde wie unzählige seiner jüdischen Kollegen aus Tschechien und Polen während des zweiten Weltkriegs von den Deutschen verfolgt und ermordet. Er starb 1942 im KZ Wülzburg. Seine Musik hat, seit sie Gidon Kremer in Lockenhaus Mitte der 1980er-Jahre erstmals wieder einer breiteren Öffentlichkeit vorstellte, eine Renaissance erlebt wie keine zweite in der langen Reihe der von den Nazis ausgetilgten „entarteten Musik“. Man schätzt heute seine expressive Streichermusik ebenso wie seine dadaistischen Frühwerke und seine Solokonzerte.

Schulhoff wurde zum Opfer, nicht nur weil er Jude, sondern auch weil er Kommunist und sowjetischer Staatsbürger war. Bewahrte ihn dies nach der Besetzung der Tschechoslowakei 1939 noch vorläufig vor dem Zugriff der Deutschen, so fiel dieser Schutz mit dem Überfall auf Russland weg. Nur einen Tag nach Hitlers Russlandangriff, am 23.6.1941, forderte ihn die Ausländerpolizei auf, sich zu melden. Gemeinsam mit seinem Sohn Peter wurde er zunächst in Prag interniert, schließlich Ende 1941 in die Festung Wülzburg bei Weißenburg deportiert, wo polnische und tschechische Juden inhaftiert wurden, die zugleich Bürger anderer Staaten waren. Dort starb Erwin Schulhoff am 28. August 1942 an Tuberkulose.

Vor seiner Hinwendung zu einer kommunistisch-ideologischen Musik in den 30er-Jahren (er vertonte das Kommunistische Manifest!) hatte er in den 20ern zu den vielseitigsten Vertretern der experimentellen Moderne gehört. In Prag geboren und ausgebildet, ging er zunächst nach Dresden, wo er eine Konzertreihe mit Werken der Wiener Schule ins Leben rief, später nach Saarbrücken, Berlin und schließlich zurück nach Prag. Er experimentierte mit dem Dadaismus, wandte sich dem Jazz zu und setzte sich als hervorragender Pianist für die neuesten Errungenschaften der Zeit wie Vierteltonexperimente ein. Immer nahm dabei die Kammermusik eine zentrale Stelle ein. Ihr hatte er auch seinen internationalen Durchbruch 1924 in Salzburg zu verdanken (5 Stücke für Streichquartett).
Das Divertissement für Oboe, Klarinette und Fagott, Ende März 1927 vollendet und im April in Paris uraufgeführt, ist ein typisches Produkt der „goldenen Zwanziger“, enthält es doch einen echten Charleston und manches andere, was vom Geist und den Sehnsüchten der Zeit zeugt. In seiner Mischung aus herben Dissonanzen, freier Tonalität, neobarocker Rhythmik und einer frech-frivolen Charakterisierungskunst ist es dem frühen Hindemith verwandt, dessen Niveau hier keineswegs unterschritten wird. Unsere Interpretinnen spielen eine leicht gekürzte Version des Werkes in fünf statt original sieben Sätzen.

Die für Schulhoff typische Nähe zum Puls der Zeit kann man an Vielem ablesen: an der unverkrampften Verschmelzung von U- und E-Musik, am ironischen Seitenhieb auf die Amerika-Sehnsucht der Zeit (Florida), am Spott auf die Sentimentalität der Epoche, der auf Heines Begriff Romanzero zurückgreift. Der Bläsersatz ist überaus fein und wirkungsvoll gearbeitet, manchmal auch grell, ja fast schrill. Der Tscheche Schulhoff ließ sich hier von der Nonchalance französischer Bläsermusik des Neoklassizismus inspirieren, die er, ähnlich wie Alexandre Tansman, in Paris kennenlernte.
Karl Böhmer