Fantasie | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Harald Genzmer

Fantasie

Fantasie (1999) Uraufführung am 22.11.2000

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 3951

Satzbezeichnungen

Erläuterungen

2000
HARALD GENZMER
Fantasie, Suite in C

In den meisten Klaviermusik-Führern der Gegenwart klafft zwischen Galuppi und Gershwin sozusagen demonstrativ eine Lücke: das reiche Klavierschaffen Harald Genzmers wird verschwiegen. Zwei Sonaten, drei Sonatinen, eine Suite und eine Sonate für zwei Klaviere sowie zwei Spielbücher für angehende Pianisten scheinen so sehr traditionellen Bahnen verhaftet, so unzeitgenäß vor dem Hintergrund der Nachkriegs-Avantgarde, dass man sie heute geflissentlich unter den Tisch kehrt.

In älteren Klavierhandbüchern ist das noch anders. Walter Georgii berichtete in Klaviermusik (zuerst 1942 erschienen) von Genzmers Beitrag zur Wiederbelebung der Sonate und nennt ihn einen Komponisten, der „über den Verdacht erhaben“ sei, „zu den Reaktionären zu zählen“. Selbst Genzmers Beiträge zu deutschen Sammelwerken während der Kriegsjahre (Straßburger Klavierbuch, 1943) werden hier wertneutral behandelt. Ähnlich verständnisvoll und ohne kritischen Unterton äußerte sich Otto Schumann im Handbuch der Klaviermusik von 1963. Schumann schrieb über den „Hindemith-Schüler Genzmer“, seine Musik verrate stets die „handwerksmeisterliche Schulung durch den Lehrer“. Er habe jedoch „längst seinen eigenen Weg gefunden, einen Weg, den ihm seine still-beschauliche Natur vorschreibt. Viele Gebiete der Musik … hat er mit Gebrauchsmusik bereichert; wobei unter Gebrauchsmusik eine Musik von Range zu verstehen ist, deren der Spieler von heute bedarf.“

Ob junge Pianisten heute nach Jahrzehnten pianistischer Exerzitien im Terrain der Neuen Musik in der Tat der „Gebrauchsmusik“ bedürfen, darüber müssen Ästhetiker entscheiden. Unser Interpret Oliver Triendl jedenfalls konnte und kann sich für den pianistischen Aplomb Harald Genzmers begeistern. In seinem Plädoyer für den Nestor der Traditionalisten unter den deutschen Komponisten des 20. Jahrhunderts umreißt er die ganze Spanne seines Schaffens. Es reicht von der Fantasie des 90jährigen, die Genzmer 1999 für seinen Interpreten komponierte, bis zurück zur frühen Suite in C aus dem Jahre 1948.

Paul Hindemith war der Leit-stern jener frühen Epoche und des jungen Genzmer. 1909 in der Nähe von Bremen geboren, studierte Genzmer bei ihm 1928-34 an der Berliner Musikhochschule und verinnerlichte die Pädagogik seines Lehrers ebenso wie seine stilistischen Maximen. Nach einem Abstecher in die Oper (1934-37 war er Studienleiter der Breslauer Oper) wurde Genzmer selbst Pädagoge: an der Berliner Volksmusikschule unterrichtete er 1938-45 vorwiegend Laien. In der Stunde Null des deutschen Musiklebens gehörte er zu den „Gründervätern“, die den Wiederaufbau vorantrieben: 1946 Professor an der neu gegründeten Freiburger Musikhochschule, ab 1957 dann an der Musikhochschule München. An beiden Instituten hat er eine Gruppe nahmhafter Schüler unterrichtet.

Genzmers Schaffen bewegt sich in hindemithschen Bahnen. Er schrieb Solokonzerte und Sonaten für zahlreiche Orchesterinstrumente vom Trautonium bis zum Schlagzeug, von der Flöte über die Streichinstrumente bis zur Orgel. Die Kammermusik ist zwischen Nonett und Streichquartetten vielfältig, wenn auch traditionell aufgefächert. Symphonien, Suiten und Divertimenti für Orchester, die erwähnten Sonaten, Préludes und Studien für Klavier geben seinem Oeuvre einen konservativen Anstrich. Das Schlagwort „Gebrauchs-“ oder auch „Spielmusik“ wird all jenen einleuchten, die schon einmal ein Genzmerwerk auf Flöte oder Klavier „traktierten“.
Ein halbes Jahrhundert liegt zwischen den beiden Genzmerwerken unsers Programms. Die ca. siebenminütige Fantasie, die Genzmer auch als „Rhapsodie“ verstanden wissen will, gliedert sich in fünf Abschnitte. Eine langsame Introduktion wird mit ihrem rhythmischen Grundmotiv am Ende wieder aufgegriffen. Dazwischen steht ein dreiteiliges, schnell-langsam-schnell gegliedertes Kernstück.

Die Suite von 1948 ist viersätzig und erinnert dadurch an Genzmers Klaviersonaten. Angesichts des launigeren Charakters hat er sie jedoch Suite genannt, was auf seine Orchestersuiten jener Zeit verweist (Konzertsuite von 1939, Pachelbel-Suite von 1946). Moderne Aspekte der Tanzform (man denke an Strawinsky oder Bartók) verbinden sich hier mit dem Neobarock von Telemann- oder Bachreminiszenzen. Letztere zeigen sich besonders in der „Stimmigkeit“ des Klaviersatzes: lineare Zwei- oder Dreistimmigkeit herrschen vor. Der Stil offenbart neben großer Virtuosität auch die „persönliche Note“ des frühen Genzmer, die verglichen mit Hindemith, so Karl Wörner, „in einer größeren Leichtigkeit, dem mehr spielerischen Charakter und dem schlicht lyrischen Ton“ besteht.