Fragmente - Stille - An Diotima | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Luigi Nono

Fragmente - Stille - An Diotima

Fragmente – Stille – An Diotima

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 3972

Satzbezeichnungen

Erläuterungen

2000
LUIGI NONO
Fragmente – Stille, An Diotima

„Es ist kein Irrtum anzunehmen, dass die stärkere oder schwächere Neigung zum Streichquartett ein Maß sei, an dem man den besseren oder schlechteren Weg der Kunst in einer Epoche insgesamt messen könne.“ Dieser Satz des Ästhetikers Alberto Mazzucato aus der Nummer 1 des Journals der Mailänder Quartettgesellschaft von 1864 wirkt angesichts der Entwicklung des Streichquartetts nach 1945 prophetisch. Trotz ihrer Zugehörigkeit zur verpönten Welt der klassischen Formen blieb die Gattung ein Nonplusultra für fast alle Vertreter der Avantgarde, die sich früher oder später dem Streichquartett zuwandten und ihr Misstrauen gegen dessen unpolitische, „private“ Welt überwanden.
Bei Luigi Nono, dem linksradikalen Venezianer und Komponisten einer engagierten, von politischen Texten geprägten Musik, dauerte dieser Schritt lange. Er brauchte 25 Jahre, bis er den Wunsch des La Salle Quartetts nach einem Streichquartett erfüllte. Sein letztendlich 1980 in Bad Godesberg uraufgeführtes, fast 40minütiges Quartett zählt zu den meistdiskutierten Werken des Genres. Nicht nur, dass die Kritiker darin eine Wende des Meisters weg vom politischen Engagement, hin zu „neuer Innerlichkeit“ witterten; auch für das Publikum ist das Werk eine in jeder Hinsicht extreme Hörerfahrung, die sich fast permament an der Grenze zur Stille abspielt.

Aus langen Pausen treten punktuelle Klangereignisse hervor, meist im Bereich des Piano oder Pianissimo verharrend. „Das Werk gleicht einem Netz von Klanginseln, die aus der Stille auftauchen, um in die Pausen hinein zu verklingen. Fragmente heißt hier: … ein äußerst fragiles Gebilde, das nach allen Seiten hin offen erscheint und selbst innerhalb der Klang-inseln immer wieder still steht.“ (Jürg Stenzl) Die erste Hälfte des Titels Fragmente – Stille meint diesen Sachverhalt.
Der Nachsatz An Diotima signalisiert einen inhaltlichen Bezug zu Hölderlin. Nono rückte in diesem Werk vom Engagement eines radikalen Sozialisten ab, indem er ihm statt politischer Texte Fragmente aus Gedichten Hölderlins zugrundelegte. 52 Textfragmente sind über den Notentext verstreut, Sätze wie „wenn ich trauernd versank“, „dem Täglichen gehör ich nicht“ etc. Sie sind allerdings nur zum „Mitdenken“ für die Spieler, nicht etwa als Orientierungshilfe für das Publikum gedacht, weshalb der Komponist einen Abdruck dieser Texte im Programmheft auch nicht vorsah.

Nach Nonos eigenen Worten sollen die Zitate „in keinem Fall während der Aufführung vorgetragen werden bzw. als naturalistischer, programmatischer Hinweis für die Aufführung verstanden wissen.“ Es seien vielmehr „schweigende Gesänge aus anderen Räumen, aus anderen Himmeln. Die Ausführenden mögen sie ‚singen‘…“. Für Nono kam in den Texten die „unendliche Besorgnis“ Hölderlins zum Ausdruck, die er keineswegs als Flucht ins Private missverstanden wissen wollte. „Auch das Zarte, Private hat seine kollektive, politische Seite. Deshalb ist mein Streichquartett nicht Ausdruck einer neuen retrospektiven Linie bei mir, sondern meines gegenwärtigen Experimentierstandes: ich will die große, aufrührerische Aussage mit kleinsten Mitteln.“

Eine dritte Dimension kommt hinzu: Zitate aus der Musikgeschichte, die Nono ebenfalls dem Sinn des Werkes, der Hölderlinschen „Besorgnis“ zuordnete. Beethovens Vortragsanweisung Mit innigster Empfindung wird ebenso zitiert wie die Scala engimata, die Rätseltonleiter, aus Verdis Ave Maria für Chor, sowie die Chanson Malheur me bat des Niederländers Ockeghem.

Für den Formverlauf des Werkes kann man keine Hörhilfen geben. Die Deutungen in der Literatur variieren zwischen freier Rondoform und Dreiteiligkeit. Wesentlich für das Hören bleibt das Punktuelle der Fragmente innerhalb der Stille und ihr fast durchweg fremdartiger Klang. Dieser wird durch extreme Spieltechniken der Streicher wie Flageolett, Sul ponticello, Schlagen mit dem Bogenholz etc. erzeugt und grenzt oft schon an elektronisch wirkende Klänge, während der traditionelle Quartettsatz fast ganz ausgeklammert bleibt.

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In der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestfunks gehörte der italienische Komponist Luigi Nono zu den häufigen Gästen. Mit einem freundlichen „Ciao Gigi“ begrüßte man den langen, schlacksigen Maestro aus Venedig, der sich durch politisch engagierte Werke einen festen Platz in der Neuen Musik erobert hatte. Bei einem dieser Arbeitsbesuche in dem idyllischen Haus bei Freiburg im Breisgau schuf Nono das Zuspielband für sein Violinstück „La Lontananza nostalgica utopica futura“.

Etliche Stunden hatte Nono Gidon Kremer beim Geigespielen aufgenommen, um danach seine Spielweisen und Klangfarben minutiös zu analysieren. Aus dem angesammelten Material – Musikfetzen von Bach bis Brahms, Geräuschen, Mosaiksteinen aus Improvisation und Gespräch – traf Nono seine Auswahl und komponierte daraus acht autonome Partien auf einzelne Klangspuren. Im SWF-Experimentalstudio wurden die Klänge dann mit Mitteln der Live-Elektronik nachbearbeitet: mit Harmonizer, Nachhall, Filter, Verzögerung und Raumklangsteuergerät. So entstand ein Tonband, das Gidon Kremer den Dialog mit sich selbst erlaubte – oder jedem anderen Geiger das Hin- und Herwandern zwischen den Klängen Kremers. „Madrigale für mehrere, Wanderer – mit Gidon Kremer“ lautet Nonos Untertitel des Werkes.

Tatsächlich steht hinter La lontananza die Idee des Wanderns – getreu Nonos Wahlspruch, den er an einer Klostermauer in Toledo entdeckt hatte: „Caminantes, no hay caminos, hay que caminar“ – „Wanderer, es gibt keine Wege, es gibt nur das Gehen“. In diesem Sinne entfaltet sich La lontananza als stets neue Interaktion zwischen dem live spielenden Geigensolisten und dem Elektroniker, der die acht Partien vom Band aussteuert, und zugleich als Bewegung im Raum. Indem die Abschnitte der Partitur auf mehrere Notenpulte verteilt sind, durchschreitet der Geiger den Raum.

Auch die Musik selbst verkörpert dabei Aufbruch, Suche, Ziellosigkeit. In der Solostimme verarbeitete Nono seine frühen „Varianti“ für Violine und die Scala enigmatica, die „Rätsel-Tonleiter“, aus Giuseppe Verdis „Quattro pezzi sacri“. Diese Elemente kombinierte er mit differenziertesten Spieltechniken und Mikrointervallen. Weder der Einsatz der einzelnen Teile des Soloparts noch die Dauer von Fermaten oder Pausen sind festgelegt. Jede neue Aufführung bringt eine neue Lesart des Werkes hervor, eine neue Klang-Aktion, die sich im Raum verteilt. Die Klangbahnen kreuzen sich wie Stimmen in einem Madrigal. In unserer Aufführung verbinden sie sich mit der Idee des Kreuzwegs und seiner Stationen.

Nono widmete das Werk seinem Schüler Salvatore Sciarrino. Für ihn bedeutet La lontananza nostalgica utopica futura eine ästhetische Metapher: „Indem die Vergangenheit durch die Gegenwart reflektiert wird (nostalgica), bringt sie eine kreative Utopie hervor (utopica); die Sehnsucht nach dem Bekannten wird zum Vehikel für das Mögliche (futura) durch das Medium der Entfernung (lontananza).“