Variationen Es-Dur, op. 44 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Ludwig van Beethoven

Variationen Es-Dur, op. 44

Variationen Es-Dur, op. 44 für Klaviertrio

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 3993

Satzbezeichnungen

Erläuterungen

Eroica

„Sinfonia eroica“ hieß Beethovens Dritte Sinfonie erst ab Oktober 1806, als unter diesem Titel die gedruckten Orchesterstimmen in Wien erschienen. Bis Herbst 1804 hatte der Komponist für dieses in jeder Hinsicht revolutionäre Werk noch einen anderen Titel vorgesehen: „Sinfonia Grande intitulata Bonaparte“ – „Große Sinfonie, Bonaparte genannt“. Jahre lang hatte Beethoven den Aufstieg des Korsen zum „Ersten Konsul“ Frankreichs mit einer Mischung aus Bewunderung und Abscheu verfolgt. Er schwärmte für die republikanischen Ideen, die Napoleon Bonaparte vertrat und mit dem Schwert gegen alte Ordnungen durchsetzte, doch er verabscheute seine allmähliche Anbiederung an dieselben herrschenden Kräfte, die der Franzose zuvor bekämpft hatte. Als ihm der Verleger Hoffmeister 1802 vorschlug, eine Klaviersonate zu Napoleons Ehren zu schreiben, antwortete der Meister schroff: „Zu Zeiten des Revolutionsfiebers, nun da wäre das so etwa gewesen, aber jetzt, da sich alles wieder ins alte Geleis zu schrieben sucht, Bonaparte mit dem Papste das Konkordat geschlossen – so eine Sonate?“ Das Konkordat des Korsen mit dem Kirchenstaat war der erste Schritt einer Desillusionierung, die im Dezember 1804 mit der Kaiserkrönung Napoleons ihren Höhepunkt erreichte. Als Beethovens Schüler Ferdinand Ries ihm die Nachricht überbrachte, Napoleon habe sich zum Kaiser erklärt, war Beethoven außer sich vor Wut und rief aus: „Ist der auch nichts anders, wie ein gewöhnlicher Mensch! Nun wird er auch alle Menschenrechte mit Füßen treten, nur seinem Ehrgeize frönen, er wird sich nun höher, wie alle Anderen stellen, ein Tyrann werden!“ Beethoven trat an den Tisch, auf dem die Partitur der Dritten lag, zerriss das ursprüngliche Titelblatt mit dem Wort „Bonaparte“ darauf „ganz durch und warf es auf die Erde. Die erste Seite wurde neu geschrieben und nun erhielt die Symphonie den Titel: Sinfonia eroica.“ Soweit die berühmte Anekdote, wie sie Ries überliefert hat.

Trotz des Gesinnungswandels beim Komponisten wie beim Konsul, der zum „Kaiser der Franzosen“ wurde, ist der erste Satz der „Eroica“ noch ganz vom Elan des Helden durchdrungen. Er feiert in stürmischen Tönen den Aufstieg des genialen Feldherrn und Nach-Revolutionärs, der das alte Europa des Ancien régime in Angst und Schrecken versetzte. „Composta per festeggiare il sovvenire di und grand Uomo“ steht auf den Orchesterstimmen von 1806, „komponiert, um den Aufstieg eines großes Mannes zu feiern“. Dass dieser Mann ab 1804 nicht mehr Bonaparte heißen durfte und sich Beethovens einstige Bewunderung für Napoleon in offenen Hass verkehrte, ändert nichts an der ursprünglichen Absicht des Werkes.

Die Schlacht bei Vittoria

Wie viele Städte im Norden Spaniens führt auch Vitoria zwei Namen: neben ihrem kastilischen Namen Vitoria (oder Vittoria) heißt sie auf Baskisch „Gasteiz“. Seit 1980 ist sie die Hauptstadt der autonomen Region des Baskenlandes. Noch heute wird in den Annalen Vitorias jene Schlacht besonders hervorgehoben, die Lord Wellington 1813 in der Nähe der Stadt gegen die Franzosen gewann. Sie ist zwar annähernd so ruhmreich verlaufen, wie sie Beethoven in Tönen geschildert hat, doch hatte sie ein weit weniger glorioses Nachspiel. Nach wüsten Plünderungen und einem nächtlichen Saufgelage seiner Soldaten beschimpfte der große englische Feldherr seine eigene Armee als „cum of the earth“, als „Abschaum der Erde“, während die Franzosen ihren Weg Richtung Pyrenäen ungehindert fortsetzen konnten.

Joseph Bonaparte, der Bruder Napoleons und „König von Spanien“, hatte nach vier Jahren stärksten Widerstandes auf der iberischen Halbinsel seinen Truppen den Rückzug in die Heimat befohlen. Vor dem Übergang über die Pyrenäen wollte Wellington die Franzosen in taktisch ungünstiger Lage stellen: Der Feind hatte sich hinter den Fluss Zadora zurückgezogen, ohne die Brücken zu zerstören. In drei Verteidigungslinien erwartete Joseph die Armee der vereinigten Briten, Spanier und Portugiesen. 78.000 Mann auf Seiten der Koalitionsarmee standen 57.000 Franzosen gegenüber, 80 Kanonen auf der einen Seite 70 auf der anderen Seite. Sie sorgten für den ohrenbetäubenden Lärm der Schlacht, die von den Koalitionstruppen am 21. Juni 1813 in vier Linien vorrückend eröffnet wurde. Der Angriff von General Graham auf die linke Flanke der Franzosen brachte die Entscheidung: Joseph Bonaparte ließ zum Rückzug blasen und notgedrungen mit seinem Tross auch sämtliche Geldmittel zurück. Angeblich sollen den Siegern rund 5 Millionen Pfund an Sold in die Hände gefallen sein. Als Wellington seine Armee am nächsten Morgen zur Verfolgung der Franzosen antreten lassen wollte, waren die meisten Soldaten betrunken und fast alles Geld verschwunden. Der Zorn des Feldherrn ist nur zu verständlich.

In Beethovens Tongemälde „Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Victoria“ wird das unrühmliche Nachspiel des Ereignisses natürlich verschwiegen. Hier ziehen zunächst die glorreichen Armeen von zwei Seiten mit ihren Hymnen auf, jeweils als Marsch für Militärmusik: Die Engländer spielen „Rule, Britannia“, die Franzosen „Marlborough s’en va-t-en guerre“. Nach dem Aufzug der Heere blasen die Fanfaren zum Sturm: Aufforderung zur Schlacht – Annahme der Aufforderung. Die Armeen stürzen sich aufeinander. Die Schlacht: Ins wilde Getümmel des Orchesters mischt sich realistisches Artelleriefeuer; ein Galopp im Dreiertakt zeigt die heranpreschende Kavallerie. Am Ende ziehen die Franzosen mit ihrem nach Moll transponierten, von Seufzern durchzogenen Marsch kläglich ab. Die Engländer bleiben strahlende Sieger und feiern den Triumph im Schlussteil, einer „Siegessymphonie“.

Komponiert hatte Beethoven dieses Stück zunächst nicht für Orchester, sondern für einen monströsen Musikautomaten namens „Panharmonicon-Orchestrion“. Johann Nepomuk Mälzel, der Erfinder des Metronoms, hatte ihn 1804 konstruiert und plante damit eine Tournee nach England, wofür ihm Wellingtons Sieg gerade Recht kam. Doch auch sämtliche Kreise der Wiener Bevölkerung versetzte Beethovens Schlachtengemälde in patriotische Euphorie, indem es ihnen – einem heutigen Actionfilm vergleichbar – ein fantasievoll gerafftes und geschöntes Panorama der Schlacht vor Augen bzw. Ohren führte.

Für den baldigen Niedergang Napoleons war Vitoria ein Signal. Der Frühjahrsfeldzug der Preußen, die Frankreich im März 1813 den Krieg erklärt hatten, war unglücklich verlaufen. Die Nachricht vom Sieg in Spanien brachte die Wende. Am 12. August schloss sich Österreich den Preußen an, wenig später traten England und Schweden der Koalition bei. Der Herbstfeldzug der vereinigten Armeen auf deutschem Boden stand unmittelbar bevor. Entsprechend euphorisch war auch in Wien die Stimmung.

Nur wenige Wochen später sollte sich das Schicksal Europas entscheiden: Vom 16. bis 19. Oktober 1813 rangen die Deutschen, Österreicher und Schweden in der Völkerschlacht bei Leipzig Napoleon nieder. Die Sieger verfolgten den Usurpator in Richtung Frankreich, während allerorten Siegesfeiern abgehalten wurden. Beethoven schloss sich der allgemeinen Euphorie an und setzte für den 18. Dezember 1813 eine große Akademie an. Auf dem Programm standen die 7. und 8. Sinfonie, die Ouvertüre zum Freiheitsdrama „Egmont“ und zum Abschluss die orchestrierte Version von „Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vittoria“. In seiner Dankadresse an die Mitwirkenden brachte Beethoven den patriotischen Charakter der Veranstaltung unmissverständlich zum Ausdruck: „Uns alle erfüllte nichts weiter als das reine Gefühl der Vaterlandsliebe und des freudigen Opfers unserer Kräfte für diejenigen, die uns soviel geopfert haben.“ Es war keineswegs nur Sensationslust und brachialer Patriotismus, der sich in den Tönen des Schlachtengemäldes Bahn brach, sondern auch – wie man es schon in der barocken „Battaglia“ von Biber findet – Mitgefühl für die auf dem Felde der Ehre Gefallenen und Dankbarkeit angesichts ihres Opfers fürs Vaterland.

Eine Sinfonie für Europa

Eine Minute und 57 Sekunden dauert die Europahymne im offiziellen Download des Europäischen Parlaments: Thema und erste Variation aus dem Finale von Beethovens Neunter, mit einem Konzertschluss versehen von Herbert von Karajan. 1972, zum 150. Geburtstag der Sinfonie, an der Beethoven ab 1822 arbeitete, wählte sich der Europarat diese berühmteste aller Beethoven-Melodien zur Hymne – wohl gemerkt aus dem rein instrumentalen Teil des berühmten Finales, also ohne Text. Auch als das Europäische Parlament 1985 diese Hymne vom Europarat übernahm, wurde auf keinen Text verwiesen. Friedrich von Schillers „Ode an die Freude“ darf freilich – so die offiziellen Verlautbarungen der Europa-Parlamentarier – bei der Musik mitgedacht werden. Auch eine europäische Philosophie wird zur Melodie mitgeliefert. So heißt es auf der Website eines deutschen MdEP:

„Die europäische Hymne kann uns helfen, eine gemeinsame europäische Identität zu finden. Sie soll für die idealistischen Werte Europas stehen – Freiheit, Frieden und Solidarität. Und neben dieser kulturellen Identifikation auch politische Grundüberzeugungen vermitteln: Warenverkehrsfreiheit, Unionsbürgerschaft oder die Grundrechtscharta können damit plastischer und greifbarer gemacht werden.“

Als Beethoven 1822 an die Arbeit zu seiner letzten Sinfonie ging, dachte er kaum an „Warenverkehrsfreiheit“ und „Unionsbürgerschaft“, wohl aber an die Grundrechte der Menschen in einer freien und brüderlichen Gesellschaft. Die „idealistischen Werte Europas“ lagen damals wieder einmal am Boden. Durch die Karlsbader Beschlüsse hatte der österreichische Staatskanzler Metternich den Traum der Befreiungskriege von einem geeinten Deutschland unter freiheitlichen Vorzeichen vernichtet und jede politische Aktion im Keim erstickt. In Wien lähmte das Spitzel- und Repressionssystem der Restaurationsära jedes politische Engagement und verurteilte die junge Generation eines Franz Schubert zu frustrierender Stagnation. In diesen Jahren blieb es allein der lebenden Legende Beethoven vorbehalten, die Utopie noch einmal kraftvoll und unmissverständlich auszusprechen: die „Sehnsucht nach äußerem und innerem Frieden“, wie er es für die „Missa solemnis“ fomulierte, das „Seid umschlungen, Millionen“, wie es in der Neunten heißt.

1822, nach der Vollendung der Messe, nahm Beethoven die Skizzen zur Sinfonie wieder auf, deren ersten Satz er bereits 1817 – parallel zur monumentalen „Hammerklaviersonate“ – entworfen hatte. 1823 wurde dann das Jahr der Neunten, in dem der Entwurf fast zur Gänze reifte. Im Februar 1824 war die gesamte Partitur vollendet.

Die ersten drei Sätze haben schon die Zeitgenossen Beethovens irritiert – wegen ihrer ausufernden Länge und der geradezu hermetischen Sperrigkeit besonders des ersten Satzes. Beethoven stieß hier, ohne es zu ahnen, das Tor zur Sinfonie der Spätromantik weit auf. Vom Beginn der Neunten übernahm Bruckner die Idee des „Urnebels“: Aus geheimnisvollem Tremolo und „leeren“ Quint-Quart-Klängen schält sich das Thema erst heraus, bevor es mit brachialer Gewalt über den Hörer hereinbricht. Wie später bei Brahms ist es das ständige Variieren und Kontrapunktieren dieses Themas und seiner Motive, das den Satz prägt.

Das raffinierte Spiel mit „tre battute“ und „quattro battute“, also drei und vier Großeinheiten, unter denen die Takte zusammengefasst werden, prägt das Scherzo – auch dies ein revolutionär neuer Einfall Beethovens zur rhythmischen Straffung und Gliederung. Aus dem langsamen Satz der Neunten übernahm das gesamte Wiener „Fin de siècle“ von Bruckner bis Mahler die Idee des „Adagio“ im emphatischen Sinne: eine ungeheuer weit gespannte, von „beseelter“ Melodik getragene Meditation, die mit schnelleren Allegretto-Abschnitten durchzogen ist.

Die Geschichte des berühmten Finales ist genau erforscht worden. Die Idee, Schillers „Ode an die Freude“ zu vertonen, „und zwar jede Strophe“, war eine alte Lieblingsidee des Meisters, die er schon 1793 gehegt hatte. An die Ausführung ging er erst 30 Jahre später unter dezidiert nationalen Vorzeichen. In einem Skizzenbuch von 1822 nannte er die Neunte „Sinfonie allemande“, „Deutsche Sinfonie“, und fügte hinzu: „mit Variationen nach dem Chor Freude schöner Götterfunken … Ende der Sinfonie mit türkischer Musik und Singchor.“ Im Wesentlichen hat Beethoven diesen Plan umgesetzt, wobei er mit „türkischer Musik“ die Militärmusik-Elemente des Finales meinte. Der am Ende eintretende „Singchor“ wurde zunächst um vier Solisten erweitert. Dann arbeitete sich Beethoven von hinten nach vorne: Erst entwarf er die gesungen Variationen und das „Seid umschlungen“, dann die orchestralen Variationen in der ersten Hälfte des Finales. Am meisten Mühe machte ihm die Einleitung des Satzes, das von schauerlichen Akkorden umrahmte Rezitativ der Celli und Kontrabässe, das später vom Solobass aufgegriffen wird („Freunde, nicht diese Töne!“). Als orchestrale Einwürfe in diesem Rezitativ fungieren die Themen von Scherzo und Adagio – ein Symbol dafür, dass der „schöne Götterfunken“ die düsteren Schatten der Welt vertreiben kann – eine utopische Hoffnung, für deren permanent bedrohte Verwirklichung die europäischen Parlamentarier von heute sich einsetzen. Auch in diesem Sinne ist Beethovens „Ode an die Freude“ eine ideale „Europahymne“.