Ouvertüre C-Dur | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Georg Philipp Telemann

Ouvertüre C-Dur

Ouverture C-Dur „Hamburger Ebb‘ und Fluth“

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 4245

Satzbezeichnungen

1. Ouverture. Lentement – Vite

2. Réjouisance

3. Rondeau

4. Loure

5. Passepied

6. Air. Un peu vivement

7. Gigue

Erläuterungen

Eine „Wassermusik“ in einem ganz anderen Sinne als bei Händel ist Georg Philipp Telemanns Orchestersuite „Hamburger Ebb´ und Fluth“: nicht eine Musik „auf dem Wasser“, sondern eine Musik, die das Wasser in den Innenraum holt, wie Vivaldis Seesturm-Concerto. 1723 komponierte der Kantor der Hamburger Hauptkirchen und Musikdirektor der Stadt diese Suite 1723 für ein Festmahl der Hamburger „Admiralität“. So nannten sich die Beamten, die für den Schiffs- und Zollverkehr im Hafen verantwortlich waren. Zur Hundertjahrfeier ihrer erlauchten Institution nahmen sie ein Festmahl zu sich – natürlich in einem festlich geschmückten Saal mit Musikerempore und nicht im zugigen Hafen. Telemann hatte den genialen Einfall, bei dieser Gelegenheit das Wasser einfach in den Innenraum hineinzuholen: auf musikalischem Wege. Es war ein ideales Sujet für den genialsten Klangmaler des deutschen Spätbarock.

In Magdeburg an den Ufern der Elbe geboren, war Telemann dem Flusslauf bis zur Mündung, bis nach Hamburg gefolgt. Er wusste von den Segnungen des Wassers ein Lied zu singen. Wenn für „eine starke Partitur mit Trompeten und Pauken“ das Postgeld über Land zu teuer war, bediente er sich einfach der Schiffsfracht. Er war ein begeisterter Anhänger der „Brunnen-Cur“ in Bad Pyrmont, „wo Gott seinem Mineralwasser so viel Segen zuerkannt hat, dass die Wunder die Glaubenskraft übersteigen“. In seiner Wahlheimat Hamburg trafen Süß- und Salzwasser aufeinander: Die Elbe mündet nördlich der Hansestadt bekanntlich in die Nordsee. Die auf dem Fluss verschifften Waren traten also an der Elbmündung ins Reich des Meeresgottes Neptun ein und von da ihren Weg in die Welt an. Was wäre passender gewesen, als eine Festmusik zur Hundertjahrfeier der Hamburger „Admiralität“ dem (Salz-) Wasser und seinen Gottheiten zu widmen?

Die Suite hat noch ein zweites Thema: Ebbe und Flut. Der Alltag im Hamburger Hafen wurde von den Gezeiten bestimmt, aber auch von Sturm und Flaute, von günstigen und ungünstigen Winden. Also lenken in Telemanns Suite „Ebb‘ und Flut“ das Geschehen – nebst einigen antiken Göttern, die für wohligen Badespaß oder schäumende Wellen sorgen. Gleich die Einleitung verwandelt das gängige Modell einer französischen Ouvertüre in ein suggestives Bild von Ebbe und Flut. Im langsamen Teil malen die Oboen mit endlos langen Tönen die Ebbe, untermalt von matten punktierten Rhythmen der Streicher. Im schnellen Mittelteil rauscht die Flut heran: erst zaghaft, dann immer wilder, bis sie das ganze Hafenbecken erfasst. Am Ende zieht sie sich wieder zurück und überlässt der Ebbe das Feld.

Die neun Tänze der Suite entrollen vor dem Hörer ein mythologisches Panorama des nassen Elements. Antike Meergottheiten des Mittelmeers haben sich in die Elbmündung verirrt. Dort gehen sie ihrem üblichen Geschäft nach: der Liebe. Als Erste erblicken wir die schöne Thetis, die Mutter des Achill, die durch ihre erotischen Reize gleichzwei Götter, Neptun und Jupiter, für sich einnahm. Zunächst ruht sie unter dem sanften Wiegen und Wogen schmeichelnder Flötentöne in durchaus erotischer Pose (Sarabande „Die schlafende Thetis“). Dann erwacht sie und ist gleich ganz Herrscherin des Meeres (Bourrée „Die erwachende Thetis“). Auf dem Fuße folgt ihr getreu der Mythologie der „verliebte Neptunus“, der es nur zu den schmachtenden Tönen einer „Loure“ bringt. Der Gott der Meere ist nicht mehr der jüngste, und seine galanten Bemühungen werden dezent ins Lächerliche gezogen. Dafür spielen um ihn her die jungen, prickelnden Najaden, die stets nur ihre ansehnliche Oberweite aus dem Wasser strecken (Gavotte „Die spielenden Najaden“). Unter sie mischt sich ein rauer Gesell, ein Triton, der Unruhe stiftet. In sein Horn blasend und auf einem Delphin reitend, stellt er den Najaden nach. Telemann nannte diesen Satz treffend „Harlequinade“: ein Rondeau, dessen Thema in Oboen und Streichern das Tritonshorn imitiert, während die köstlichen Couplets (Soli der Bässe über Pizzicatobegleitung) die genialen Wellenritte eines antiken Surfers nachahmen.

Was wäre das Meer ohne die Winde? Die zwei ewigen Widersacher um das Reich der Lüfte treten auf: Aelous, der cholerische Gott der Sturmwinde, und Zephyrus, der sanfte Gott des Südwestwinds. Wie in Bachs Kantate „Der zufriedengestellte Aeolus“ öffnet Ersterer die Höhle der Winde und lässt der Wut seiner unfreundlichen Dienerschaft freien Lauf. Sie rauschen in einem atemberaubenden Crescendo heran und versetzen alles um sie her in einen Taumel wirbelnder Tornados (Allegro „Der stürmende Aeolus“). Danach sorgen die Zephirwinde für eine Atempause. In den geordneten Rhythmen eines Menuetts, von einem Flötenpaar schmeichelnd umspielt, bringen sie die Welt wieder in Ordnung. Dann jedoch rauscht zum zweiten Mal und noch heftiger die Flut heran. Nach der Ouvertüre hat sich Telemann an dem Bild noch ein zweites Mal in der Gigue versucht. Die Triolenbewegung dieses Tanzes begünstigte die Darstellung sich kräuselnder Wasserwirbel, die erst leise sich bilden (Ebbe), um dann alles zu überschwemmen (Flut). Am Ende ziehen sie sich in einem Decrescendo wieder zurück und lassen den Blick aufs Wattenmeer frei. Das letzte Wort gehört den Hamburger Bootsleuten, die musikalisch sozusagen Plattdeutsch sprechen. Denn ihre „Canarie“ hat eine so norddeutsch-volkstümliche Melodie, dass Telemann hier wohl einmal mehr dem „Volk aufs Maul geschaut“ hat.