Nouvel Quatuor Nr. 6 e-Moll, TWV 43:e4 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Georg Philipp Telemann

Nouvel Quatuor Nr. 6 e-Moll, TWV 43:e4

Nouvel Quatuor Nr. 6 e-Moll, TWV 43:e4 (auch „Pariser Quartett Nr. 12“ genannt)

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer:

Besetzung

Satzbezeichnung

Prélude. À discretion – Très vite (Ouverture) – À discretion
Distrait
Modéré (Passacaille)

Erläuterung

Vom Wien des 17. Jahrhunderts springen unsere Interpreten ins Paris der galanten Zeit. Dort fand sich im Herbst 1737 ein prominenter Gast aus Deutschland ein: Georg Philipp Telemann. Der Hamburger Musikdirektor verließ seinen Posten in der Hansestadt nur ein einziges Mal für mehrere Monate, um ins Ausland zu reisen: in seine Traumstadt Paris, wo er den Winter 1737/38 verbrachte. Seit er sich als junger Komponist in die französische Musik verliebt hatte, war es sein größter Wunsch gewesen, die französische Hauptstadt einmal selbst in Augen- und Ohrenschein nehmen zu können. Dabei wurde er von den Musikern an der Seine bereits erwartet, liebten sie doch seine Kammermusik und seine Ouvertüren im französischen Stil. In seiner Autobiographie von 1740 hat Telemann diesen Besuch folgendermaßen geschildert:

„Meine schon längst-abgezielte Reise nach Paris, wohin ich schon von verschiedenen Jahren her durch einige der dortigen Virtuosen … war eingeladen worden, erfolgte um Michaelis 1737 und wurde in acht Monaten zurück geleget. Daselbst ließ ich neue Quatuors auf Vorausbezahlung in Kupfer stechen. Die bewunderungswürdige Art, mit welcher die Quatuors von den Herren Blavet, Traversisten; Guignon, Violinisten; Forcroy dem Sohn, Gambisten; und Edouard, Violoncellisten, gespielt wurden, verdient, wenn Worte zulänglich wären, hier eine Beschreibung. Gnug, sie machten die Ohren des Hofes und der Stadt ungewöhnlich aufmerksam und erwarben mir in kurzer Zeit eine fast allgemeine Ehre, welche mit gehäufter Höflichkeit begleitet war.“

Nur in Paris mit seinem damals schon hoch entwickelten öffentlichen Konzertleben war es möglich, mit einem Zyklus von Kammermusik solches Aufsehen zu erregen. „La cour et la ville“, der Königshof in Versailles und die Hauptstadt, überschütteten Telemann mit Ehren. Dabei konnte er sich ganz auf den Ruhm und das Können seiner vier Mitspieler verlassen (er selbst saß bei der Uraufführung vermutlich am Cembalo). Michel Blavet war der mit Abstand berühmteste Flötist Europas, und zwar auf der „Flûte traversière“, der barocken Querflöte. Für sie, nicht für die Blockflöte, hat er die wunderbare Oberstimme dieser sechs Quartette geschrieben, die von der raffinierten Sinnlichkeit des Rokoko zeugt, von den fein ziselierten Verzierungen des französischen Stils, aber auch von der Virtuosität Italiens, wie sie Blavet als erster Flötist nach Paris gebracht hatte. Der Geiger Guignon war Konzertmeister der „24 violons du Roi“, des Hoforchesters, und hatte den jungen Ludwig XV. für sich eingenommen, als er Vivaldis Frühlingskonzert aus den Vier Jahreszeiten in Paris vorgestellt hatte. Auf den jüngeren Forqueray an der Gambe werden wir noch zu sprechen kommen. Zu diesen drei Spielern und dem Cembalo gesellte sich noch ein Cellist, denn obwohl es sich um Quartette handelt, konnte man den Basso continuo, die vierte Stimme, mit zwei Spielern ausführen. In unserer Fassung wird Telemanns Quatuor allerdings von einem Quartett gespielt.

Das sechste Quartett in e-Moll ist das französischste der ganzen Serie, denn es beginnt mit einer so genannten „französischen Ouvertüre“ (ein pathetisches Adagio in punktierten Rhythmen, gefolgt von einem rasend schnellen Allegro im Dreiertakt, mit der veränderten Wiederholung des Anfangs als Abrundung), und es endet mit einer Passacaille, einem jener pathetischen Gruppentänze im Dreiertakt, die auf der Pariser Opernbühne den Höhepunkt jeder Opernaufführung darstellten. Hier wird nur gleichsam im Geiste getanzt: Zur gemessenen Bewegung im feierlichen Dreihalbetakt treten in den Oberstimmen erst ausdrucksvolle Seufzer, dann schneller werdende Achtel in kreisenden Bewegungen, während das Cembalo einen Basso ostinato spielt, ein immer wiederkehrender Bassthema aus sechs langen Noten. Es tritt insgesamt zwanzig Mal auf, in der Grundtonart e-Moll, zwischendrin aber auch in G-Dur und h-Moll. So hat Telemann seine „Neuen Quartette“ mit einem Meisterstück des Kontrapunkts und des Ausdrucks gekrönt. Davor aber hat er einen seiner schmissigsten Tanzsätze gestellt, einen wilden Tanz aus lauter Synkopen im Dreiertakt, Distrait genannt, „Zerstreuung“. Hinter dem französischen Titel verbirgt sich ein echter polnischer Tanz, wie ihn Telemann schon als ganz junger Kapellmeister im schlesischen Pszczyna von polnischen Wirtshausgeigern gehört hatte und sein Leben lang immer wieder aufgriff und nachahmte.