Klavierquintett Nr. 1 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Grazyna Bacewicz

Klavierquintett Nr. 1

Klavierquintett Nr. 1

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer:

Besetzung

Klavier
Violine I
Violine II
Viola
Violoncello

Satzbezeichnung

Moderato molto espressvio – Allegro
Presto
Grave
Con Passione

Erläuterung

Grazyna Bacewicz war die bedeutendste polnische Komponistin des 20. Jahrhunderts. Sie begann ihren kompositorischen Weg als neoklassizistische Schülerin von Nadia Boulanger in Paris, löste sich jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg von diesem Einfluss und fand ihre eigene, hochexpressive Klangsprache in der stilistischen Nähe Szymanowskis. Ende der Fünfziger Jahre gehörte sie zu den ersten, die Einflüsse der westlichen Avantgarde in Polen aufgriffen. Nicht zuletzt dadurch wurde sie zur „legendären Symbolgestalt“ (Eva Weissweiler), auch für die Rechte komponierender Frauen im männerdominierten Musikbetrieb.

Der polnische Musikwissenschaftler Zbigniew Skowron charakterisierte in einem Vortrag in Schloss Engers 1997 die Kammermusik von Bacewicz folgendermaßen: „Die Ästhetik von Grazyna Bacewicz, entwachsen der romantischen Tradition, aber auch dem Neoklassizismus des 20. Jahrhunderts und seinen Forderungen vom Typ ‘retour a…’, muss nicht nur als individuelle Ausdrucksästhetik begriffen werden, sondern auch als Ergebnis des Zurückgreifens auf Werte und Qualitäten, die in der Alten Musik vorhanden sind … Neben einer ausgewogenen Anwendung der Diatonik und der Chromatik sowie einer dem Sinne nach romantischen Melodik zeigt sich in ihren Werken deutlich die Suche nach originellen harmonischen Konstruktionen. Diese beeinflussen in hohem Grade die Klangaura der Kammermusikwerke der polnischen Komponistin. Ihre spezifische Koloristik ergibt sich aus ihrer klanglichen Einbildungskraft und aus ihrem Gespür für die Klang- und Artikulationsmöglichkeiten der verwendeten Instrumente, besonders der Streichinstrumente. Die Breite der Klangqualitäten, die Grazyna Bacewicz in ihren Kammermusikkompositionen verwendet hat, verläuft parallel zu ihrer Freiheit in der Gestaltung des Klangraumes eines Werkes. Die beiden fundamentalen Typen der Faktur, die Homophonie und die Polyphonie, werden in ihren Kompositionen zu Polen, in deren Rahmen sie viele gemischte und vermittelnde Formen herstellt. In der Ausbildung einer so reichen und variierten Faktur spielt das Registerdenken – neben dem linearen und akkordbezogenen Denken – eine wichtige Rolle und führt zu originellen klanglichen Ergebnissen.“

Von den Werken der virtuosen Geigerin kennt man heute besonders die Violinkonzerte, das Konzert für Streichorchester und die Streichquartette. Das erste Klavierquintett schrieb sie 1952 – in einer Zeit, als sich im deutschen Musikleben gerade die serielle Musik und andere Avantgarde-Spielarten zu etablieren begannen. Im Vergleich dazu wirkt das Quintett von Bacewicz geradezu romantisch schwärmerisch.

Es beginnt mit einer schwermütigen langsamen Einleitung: Die Streicher schweben gleichsam in der Höhe ¬– mit einer Klagemelodie in leeren Oktaven – über einem dunkel brütenden Motiv des Klaviers aus Quarten und klagenden Sekunden. Endlich spielen die Streicher einen absteigenden Melodiebogen in leuchtenden Akkorden, erst in Moll, dann in Dur, bevor die Einleitung offen ausklingt. Es folgt ein munteres Allegro im Zweivierteltakt, dessen burschikoses Hauptthema von Jazzrhythmen inspiriert scheint. Ganz anders das Seitenthema, ein Cellosolo (Cantabile) aus lauter klagenden Sekunden über wogenden Arpeggi des Klaviers. Die romantische Tradition ist hier gleichsam mit Händen zu greifen. Bratsche und Geigen gesellen sich hinzu, der Satz scheint auszufransen. Die erste Geige bringt ein neues Motiv aus fallenden Quarten ins Spiel (molto espressivo). Die Durchführung verarbeitet Motive aus allen drei Themen und gipfelt in einer Art Jazzfuge über das Hauptthema. Darauf folgt der atmosphärische Höhepunkt des Satzes, eine träumerische Berceuse des Klaviers in höchster Lage über Trillern der hohen Streicher und dem Pizzicato des Cellos. Diese fast impressionistische Episode mündet am Ende in die Reprise der langsamen Einleitung, die den achtminütigen Satz beschließt.

Der zweite Satz ist ein Presto-Scherzo, das die Streicher mit aufdringlichen Dissonanzen eröffnen. Danach schwingen sie sich auf den wiegenden Dreiertakt ein und begleiten ein schönes, tänzerisches Klavierthema in h-Moll. Dem vornehmen Mezzopiano des Klaviers antworten die Streicher immer wieder mit ihrem „sehr energischen“ Fortissimo. Witzige Pointen prägen den Dialog der Partner bis hin zu einer scheinbar chaotischen Überlagerung der Klänge: Die Bratsche spielt nun das Klavierthema, während die Übrigen scheinbar phasenverschoben ihre eigenen Scherzo-Motive einwerfen. Im Mittelteil beruhigt sich die Bewegung zu einem leisen Bratschensolo über lange ausgehaltenen Tönen. Allmählich lockt das Klavier wieder sein schönes h-Moll-Thema heran. Der zweite Durchlauf wirkt noch ruppiger als der erste, bis eine Pizzicato-Episode wieder neue Klänge ins Spiel bringt. Den Streichern fällt die letzte Reprise des Scherzothemas zu: laut, kraftvoll, in b-Moll statt h-Moll. Der Satz endet mit einem wuchtigen Fortissimo.

Der langsame Satz ist der schönste des Werkes, ein Grave, das zu den eindrucksvollsten Klavierquintett-Sätzen des gesamten Repertoires zählt. Es wird vom Klavier in tiefer Lage mit Akkorden eröffnet wird, die wie gemeißelt wirken. Die Streicher gesellen sich dolcissimo mit klagenden Sekundmotiven hinzu. Repetierte Viertel im Klavierbass verstärken noch den Eindruck einer Trauermusik, die auf einem g-Moll-Septakkord im Fortissimo ihren ersten Höhepunkt erreicht. Dann sinken die Motive der Streicher in die Tiefe hinab, um anschließend in ein geheimnisvolles Pianissimo in hoher Lage zu entschweben. Nach einer Generalpause setzt das Klavier mit der kleinen Sekund H-C ein, die es unablässig in gleichmäßigen Achteln wiederholt. Zu diesem Ostinato intonieren zweite Geige, Bratsche und Cello eine Art Quart-Organum, einen mittelalterlichen Gesang, zu dem die erste Geige mit einer wunderschönen Melodie hinzutritt. Allmählich füllt das Klavier sein Sekundmotiv mit Quarten an, der mittelalterliche Gesang steigert sich bis zu größter Intensität, bis die erste Geige zum hohen F aufsteigt und die Achtelbewegung des Klaviers von Bratsche und Cello übernommen wird. Nach einem Stagnieren auf Synkopen erreicht der Satz im Schlussabschnitt seinen unvergesslichen Höhepunkt: Unablässig wiederholen die Streicher in leeren Oktaven den Ton E, während im Klavier die blockartigen Akkorde vom Anfang wiederkehren. Allmählich wird der Klang schwächer, die hohen E’s der Geigen gehen in Flageolett über. Darunter verliert sich die Musik allmählich im Nichts (perdendosi).

Das Finale (Con Passione) greift den burschikosen Charakter des ersten Allegros wieder auf, wirkt aber im Ton leidenschaftlicher, in den Rhythmen raffinierter, in den Klängen schriller. Energico setzt eine freie Fuge der Streicher ein, getragen von rastlosen Sechzehnteln des Klaviers. Plötzlich macht die hektische Bewegung einem träumerischen Wiegenlied des Klaviers Platz, in das die Streicher wie in Trance einstimmen. Danach kehrt die hektische Bewegung wieder, die sich unablässig steigert bis zum mächtigen Schluss. Der Satz legt vom klanglichen Erfindungsreichtum und der rhythmischen Energie in Bacewiczs Kammermusik beredtes Zeugnis ab, freilich auch von ihrer Vorliebe für träumerische Klanginseln.

Karl Böhmer