Klavierquintett (2003) | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Marc Neikrug

Klavierquintett (2003)

Klavierquintett (2003) für Klavier und Streichquartett

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer:

Besetzung

Violine I
Violine II
Viola
Violoncello
Klavier

Satzbezeichnung

Andante – Subito molto più – Molto lento – Più mosso

Erläuterung

Wie einst Mozart setzt sich Marc Neikrug heute Abend an den Flügel, um sein eigenes Klavierquintett aufzuführen. In den USA ist die Einheit zwischen Interpret und Komponist, Konzertpraxis und Kompositionserfahrung selbstverständlich – ganz so wie in früheren Jahrhunderten in Europa.

Als Komponist war Marc Neikrug Mitte der Sechziger Jahre Student bei Giselher Klebe, dem großen, heute fast vergessenen Opernkomponisten, der an der Musikhochschule Detmold lehrte. Später studierte er an der State University of New York in Stony Brook und bei Gunther Schuller am Berkshire Music Centre. Seine beiden Lehrer vermittelten ihm eine anschauliche, aus den Instrumenten entwickelte Moderne, keine Abstraktionen im Sinne der Avantgarde. Dadurch und durch seine ununterbrochene Konzertpraxis wurde Neikrug zwangsläufig zu einem führenden Vertreter der American School in der Neuen Musik, jener auf Wirkung beim breiten Publikum und auf Dramatik der Verläufe abzielenden Richtung, mit der sich die orthodoxen Vertreter der europäischen Avantgarde stets schwer taten.

Charakteristisch für die Anschaulichkeit seines Stils sind Titel wie Flamenco Fanfare (1994) oder die Orchestersuite aus seiner einzigen Oper Los Alamos, die 1988 in Berlin uraufgeführt wurde. Ansonsten ist er gewissermaßen ein Experte für Solokonzerte: Zwischen 1967 und 1999 hat er je zwei Klavier- und Violinkonzerte geschrieben, ein Bratschenkonzert, ein Klarinetten- und ein Flötenkonzert. Auch in der Kammermusik liebt er konzertante Strukturen (Sonata concertante für Violine und Klavier, Concertino für sieben Instrumente, Klarinettenquintett von 2011). Schlagartig bekannt wurde er freilich durch ein dramatisches Stück Musiktheater: Through Roses von 1980. Dieses Auftragswerk der New Yorker 92nd Street Y erzählt die Geschichte eines Geigers, der Auschwitz überlebte. Es wurde in elf Sprachen übersetzt, erlebte mehr als 500 Aufführungen in 15 Ländern, war Gegenstand eines Dokumentarfilms von Christopher Nupen und einer Verfilmung, die Jürgen Flimm 1997 mit Maximilian Schell produzierte.

Weltberühmte Solisten und Orchester haben seine Werke aufgeführt: der Flötist James Galway, der Geiger Shlomo Mintz, das Tokyo String Quartet und immer wieder sein Freund und Duopartner Pinchas Zukerman. Als Dirigent stand Zukerman am Pult vieler Neikrug-Uraufführungen, etwa mit dem English Chamber Orchestra. Ansonsten finden sich unter seinen Auftraggebern einige der bedeutendsten Festivals, Orchester und Dirigenten der Welt: das Lincoln Center in New York, die Frankfurt Feste, das Schleswig-Holstein Festival, das Aldeburgh Festival und das London South Bank Festival; das New York Philharmonic, Houston und Pittsburgh Symphony Orchestra unter Dirigenten wie Christoph von Dohnányi, Christoph Eschenbach, Lorin Maazel, Zubin Mehta oder David Zinman. Mehrere amerikanische Klangkörper zogen Marc Neikrug als Experten für Neue Musik heran wie etwa das St. Paul Chamber Orchestra. Für sein eigenes Festival in Santa Fe gab er regelmäßig neue Werke in Auftrag und war Composer-in-Residence beim Marlboro Festival.

Sein Klavierquintett komponierte Marc Neikrug 2003 für sein eigenes Kammermusikfestival in Santa Fe. Vier weitere renommierte Reihen in den USA beteiligten sich an dem Auftrag (ARTS San Antonio, Chamber Music Sedona, das Kimmel Center und 92nd Street Y). Die Uraufführung wurde vom Komponisten mit dem Orion String Quartet bestritten, das letzten Herbst bei Villa Musica gastierte. Nach vielen erfolgreichen Aufführungen haben die vier Streicher aus New York das Quintett mit dem Komponisten am Klavier 2006 eingespielt.

Obwohl das Quintett als ein einziger großer Satz von 26 Minuten Länge angelegt ist, zeigt es in der Einsätzigkeit doch eine traditionelle Mehrsätzigkeit: Auf eine langsame Einleitung von 58 Takten (Andante) folgt „Plötzlich viel schneller“ das eigentliche Allegro von 81 Takten. Daran schließen sich zwei Scherzo-Episoden von je 19 Takten an: ein Duett der beiden Geigen und ein Bratschensolo mit Klavierbegleitung. Darauf folgt der langsame Satz von 30 Takten, der am Ende in ein Allegro-Finale mit tänzerischer Bewegung und rasenden Läufen übergeht. Nach 75 Takten und einer riesigen Steigerung macht diese rasche Bewegung einer langsamen Coda Platz.

Das einleitende Andante kreist wie das gesamte Quintett um die Tonart es-Moll. Grundton Es und Quint B bilden zu Beginn geheimnisvolle, leise Liegeklänge in Klavier, Cello (Tremolo) und erster Geige (sul ponticello). Das Cello löst sich zu einem leisen Solo, dessen sanfte Dissonanzen um die Töne Es und E kreisen. Dieses Motiv kehrt während der gesamten langsamen Einleitung wieder. Das Klavier mischt sich erst zaghaft ins Geschehen ein, um dann kurz und mächtig in Akkorden aufzutrumpfen. Danach bleibt das Streichquartett für 14 Takte allein und lotet die kleinen Sekundreibungen zwischen B und H bzw. Es und E aus. Das Klavier meldet sich mit kräftigen Akkorden zurück. Ein lebhafter Dialog mündet in ein mächtiges Fortissimo, das freilich sofort wieder dem leisen Cellomotiv vom Anfang Platz macht. Mit der Dominante von es-Moll bzw. Es-Dur bereitet das Klavier den nächsten Abschnitt vor.

Dieses eigentliche Allegro (Subito molto più) wird von rauschenden Arpeggi in der linken Hand getragen, worüber die Streicher pittoreske Motive anstimmen. Ein riesiges Crescendo wird über 15 Takte hinweg gesteigert und mündet in einen Fortissimo-Höhepunkt, an den sich ein ruhigerer Abschnitt anschließt.

Triller der ersten Geige eröffnen die beiden Scherzo-Abschnitte. Zunächst spielen die beiden Geigen ein fast jazzig bewegtes Duett, teilweise grundiert vom Cello. Dann legt das Klavier einen Klanggrund für die Bratsche, die ein langes Solo spielt. So hat Marc Neikrug das Quintett in seine kleinsten Einheiten aufgespalten.

Als langsamer Satz fungiert ein Molto meno, das von sanft wogenden Triolen eröffnet wird und die zarten Klangvaleurs aller Instrumente auskostet. An seinem Ende kommt es zu einer langen Überleitung, die schließlich ins schnelle Finale mündet.

Dieses Più mosso ist in tänzerischen, kleinen Taktakten gehalten (4/8, 3/8, 6/8) und wird von rasenden chromatischen Läufen der ersten Geige dominiert. Gegen Ende kommt es zu einer gewaltigen Steigerung über rauschenden Klavierarpeggi, gekrönt von einem Fortissimo-Höhepunkt des gesamten Quintetts. Die chromatischen Läufe erfassen das gesamte Streichquartett, während das Klavier einen dissonanten Akkord über drei lange Takte aushält. Dann ebbt die Erregung allmählich ab und mündet in eine langsame Coda, die von klagenden Seufzermotiven der Streicher bestimmt wird.