Variationen über ein eigenes Thema op. 15 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Henryk Wieniawski

Variationen über ein eigenes Thema op. 15

Variationen über ein eigenes Thema op. 15

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer:

Satzbezeichnung

Einleitung: Maestoso – Andante ma non troppo
Thema: Allegretto
Var. I: Allegretto
Var. II: Poco più lento, Marcato (Pizzicato linke Hand)
Var. III: Risoluto
Andante ma non troppo
Finale. Tempo di Valse – Coda: Allegro vivace

Erläuterung

Wäre der polnische Geigenvirtuose Henryk Wieniawski nicht schon im Alter von 44 Jahren einem schweren Herzleiden erlegen, hätte er seinem Instrument sicher noch mehr dankbare Werke gewidmet. So aber kam er über sein zweites Violinkonzert Opus 22 nicht hinaus. Es erschien 1875 beim Schottverlag in Mainz, der auch seine Fantaisie orientale Opus 24 veröffentlichte. Sie war freilich schon ein „Opus posthumum“ nach seinem allzu frühen Tod 1880.

Nach dem Zeugnis vieler Zeitgenossen (Kreisler, Joachim, Auer) war sein Spiel einzigartig. In Bogenhaltung und Vibrato hat er die Geigentechnik revolutioniert. Schon mit elf Jahren hatte der in Lublin geborene Pole das Pariser Conservatoire absolviert, um sich danach in eine aufreibende Konzertkarriere zu stürzen. Ab dem zarten Alter von 13 Jahren gab er bis zu 200 Konzerte jährlich in allen großen Musikzentren Europas, teils im Duo mit seinem jüngeren Bruder Józef, teils begleitet von dem russischen Klaviervirtuosen Anton Rubinstein. Mit Anfang 20 schrieb er sich seine Virtuosenstücke noch selbst, wie etwa das erste Violinkonzert in fis-Moll Opus 14 oder unmittelbar danach die Variationen über ein eigenes Thema Opus 15 von 1854. In England hielt er sich 1859/60 auf, wo er in der Beethoven Quartet Society an der Seite von drei prominenten Kollegen Streichquartett spielte: Josef Joachim, Heinrich Wilhelm Ernst und Alfredo Piatti. Außerdem lernte er dort seine Frau Isabella Hampton kennen, die ihm 1860 nach Russland folgte, als ihr Mann zum Geigenprofessor am Petersburger Konservatorium berufen wurde. 1872 ging er für zwei Jahre mit Anton Rubinstein in die USA, wo er allein 215 umjubelte Konzerte gab. Zurück in Europa, tauschte er seinen Posten am Petersburger Konservatorium gegen die Professorenstelle in Brüssel ein, mutete sich jedoch weiterhin mörderische Tourneen zu, was seine Gesundheit zerrüttete. Am 11. November 1878 brach er bei einer Aufführung seines zweiten Violinkonzerts in Berlin auf dem Podium zusammen. Trotzdem riskierte er eine weitere Tournee durch Russland, da er Geld brauchte. Auf dem Landgut von Tschaikowskys Mäzenin Nadeshda von Meck ist er im März 1880 verstorben, zwei Monate vor der Geburt seiner zweiten Tochter. Um seine Familie vor der Armut zu bewahren, hatten seine Freunde in Sankt Petersburg noch kurz vor seinem Tod ein Benefizkonzert veranstaltet und vom Erlös seine Lebensversicherung aufgestockt.

Das Thema zu seinen Variationen Opus 15 hat Wieniawski selbst geschrieben, ein schönes Allegretto in der freundlichen Tonart A-Dur im Rhythmus einer Gavotte. Freilich hat er diesem graziösen Thema eine hoch pathetische langsame Einleitung in a-Moll vorangestellt: In Doppelgriffen und im Fortissimo spielt der Solist ein wuchtiges Maestoso in a-Moll, das schon die melodische Kontur des späteren Themas vorwegnimmt, im Charakter aber genau entgegengesetzt. Raumgreifende Läufe der Violine unterbrechen die Melodiezeilen dieses Choralanfangs, der in seiner quasi orchestralen Wucht erst nach 20 Takten von einem neuen Thema in der hohen Geigenlage verdrängt wird. Dieses Andante ma non troppo verwandelt den melodischen Bogen des Beginns in eine ausdrucksvolle Melodie im schwebenden 12/8-Takt. Diesen lyrischen Einschub hat Wieniawksi vor der letzten Variation noch einmal wiederholt. Eine virtuose Solokadenz leitet zum Variationenthema über.

Con grazia soll der Geiger diese klar gegliederte Melodie vortragen. Sie besteht aus dreimal acht Takten im Aufbau A-B-A’, wobei auch die einfache harmonische Struktur dazu beiträgt, dass man sie in allen Variationen wiedererkennen kann. In der ersten Variation hat Wieniawski von der Kunst der Bariolage Gebrauch gemacht, also vom Wechsel zwischen leerer und gegriffener Saite. In der zweiten Variation werden die Haupttöne des Themas mit einem Pizzicato der linken Hand kombiniert, wobei Flageolett und eingestreute Läufe die Sache noch heikler machen. Zu Beginn soll diese Variation scherzend klingen (scherzando), später aber grandioso. Damit ist der Boden für die wuchtige dritte Variation bereitet. Mit risolutem Bogenstrich taucht der Geiger das Thema in eine Fülle von Doppelgriffen, Läufen und gebrochenen Dreiklängen. Nach einer Überleitung des Klaviers stellt sich sanfte Ruhe ein: Das Andante ma non troppo aus der Einleitung kehrt wieder, nun aber in A-Dur statt in a-Moll. Virtuose Läufe ranken sich um die schöne Melodie und münden in ein leise ausgehaltenes fünfgestrichenes (!) e. Danach setzt das Finale ein. Erst wird das Thema in einen eleganten Walzer verwandelt, dann in eine stürmische Coda. In beiden Teilen kehrt mehrfach das hohe e wieder, als Schlusston wählte Wieniawski aber ein baritonales, tiefes a auf der G-Saite – um noch einmal zu beweisen, wie sehr er in diesen Variationen wahrhaft alle Register und Klanglagen der Violine ausgeschöpft hat.

Karl Böhmer