Dérive I (1984) | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Pierre Boulez

Dérive I (1984)

Dérive I (1984) für Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello, Klavier und Vibraphon

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer:

Besetzung

Flöte
Klarinette
Violine
Violoncello
Vibraphon

Erläuterung

„Das Wort Dérive bedeutet im Grunde Nebenprodukt.“ So lakonisch begann Pierre Boulez seine Einführung zu jenem sechsminütigen Ensemblestück, das er 1984 für die Instrumentalbesetzung des Pierrot lunaire entwarf, also für die klassische „Triple-Duo“-Formation aus Flöte und Klarinette, Violine und Violoncello, Klavier und Schlagzeug nebst allen denkbaren „Nebeninstrumenten“ wie Piccolo, Bassklarinette, Viola etc. Boulez beschränkte sich auf die Hauptinstrumente und beim Schlagzeug auf ein Vibraphon. 1988 ließ er seinem ersten „Derivat“ ein Dérive II folgen, weshalb das frühere Stück heute Dérive I heißt. Uraufgeführt wurde es im Juni 1984 im englischen Bath durch die London Sinfonietta unter Oliver Knussen.

„Dérive entstammt den Kompositionen Répons (1981) und Messagesquisse (1976/77). Der Ausgangspunkt des Derivats ist eine Reihe: Sechs Akkorde bilden eine kreisförmige Rotation, welche die Struktur des Stückes darstellt, diese aber auch gleichzeitig aufweicht.“ (Pierre Boulez) Der französische Dirigent Philippe Albèra erläuterte diesen Aufbau genauer: „Während Boulez an Répons arbeitete, schuf er mehrere kurze Stücke für kleines Ensemble, in denen er gewisse Ideen auswertete, die während der Entstehung jenes groß dimensionierten Werkes aufgetaucht waren. Dérive beruht auf der steten Vermehrung einer im Grunde simplen harmonischen Struktur, nämlich einer Reihe von sechs Akkorden, die ständig verwandelt werden. Jeder von ihnen enthält alle sechs Noten des Kryptogramms von William Glock, dem das Stück auch gewidmet ist, sowie sechs Transpositionen, die ein umgekehrtes Kryptogramm bilden. In diesem Werk spielt die Resonanz eine entscheidende Rolle: Das Klavier hält im Zuge des ganzen Stückes die Noten der tiefsten Oktav aus, so dass sie sich freier und mit einem größeren Reichtum an Obertönen entfalten können. Die ornamentalen, melodischen Figuren der Oberstimmen kreuzen sich in einem Klima des Jubels bis hin zu einem abrupten Ende.“

Das geheimnisvolle Kryptogramm verschlüsselt die sechs Buchstaben des Namens W. Glock auf ganz ähnliche Weise, wie es Maurice Ravel in seinem Menuett über den Namen Haydns getan hatte: Für die Buchstaben G und C setzte Boulez die entsprechenden Töne ein, während er die Buchstaben W, L, O und K willkürlich den gängigen Tonbuchstaben zuordnete. Zu Sir William Glock hatte Boulez eine besonders enge künstlerische Beziehung: Der Musikchef der BBC hatte den Franzosen zum Chefdirigenten des BBC Symphony Orchestra ernannt – nur eine von seinen vielen umstrittenen Entscheidungen. Von 1959 bis 1973 wachte Glock fast allmächtig über das BBC Musikprogramm Radio 3 – „the controller of music“, wie man ihn ehrfürchtig nannte. Als Klavierschüler von Artur Schnabel war er selbst ein Pianist von beachtlichem Format, zudem Musikkritiker des Observer und ein „hard-line modernist“. „Er brachte Bach in die Proms und Boulez in die BBC“, so lautete die einfache Formel seines Erfolgs, der nie unumstritten war. Seine Autographie Notes in Advance sorgte noch Jahrzehnte nach seinem Abgang vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk für Diskussionsstoff.