Fratres (1977/1989) | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Arvo Pärt

Fratres (1977/1989)

Fratres

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer:

Satzbezeichnung

Erläuterung

2019

ARVO PÄRT

Vor drei Jahren konnte der berühmteste Komponist Estlands seinen 80. Geburtstag feiern: Arvo Pärt. Die Feuilletons priesen den Magier des Klangs, den Meister der Spiritualität und der archaischen Formen. Als solcher ist Arvo Pärt schon früh hervorgetreten: Im September 1935 in Paide geboren, erregte er mit seinen ersten Werken bereits um 1960 das Missfallen der sowjetischen Kulturfunktionäre – sei es durch die Anwendung der „westlich dekadenten“ Zwölftontechnik, sei es durch einen unverhüllten religiösen Gehalt. Anfang der Siebziger Jahre wurde Pärt in die Orthodoxe Kirche aufgenommen und begann, sich an mittelalterlicher Musik zu orientieren, nachdem zuvor Johann Sebastian Bach seine wichtigste Inspirationsquelle war. 1980 drängte ihn das Sowjet-Regime zur Emigration nah Wien. Seit 1981 lebt er mit seiner Familie in Berlin. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fand er im endlich befreiten Estland wieder eine neue, alte Heimat. Heute teilt der 83-Jährige seinen Jahreslauf zwischen Deutschland und Estland auf.

Seine aus archaischen Wurzeln gespeisten Klänge, oftmals betörend konsonant, dabei aber streng mathematisch konstruiert und über lange Strecken statisch verharrend, wurden durch Musiker wie Gidon Kremer im Westen schlagartig berühmt. Werke wie Fratres oder Tabula rasa sind Welterfolge der Neuen Musik, ebenso jene Vokalwerke, die Pärt für das Hilliard Ensemble schrieb. Als quasi offizielle Darstellung seiner künstlerischen Entwicklung sei hier ein Text seines Verlages, der Universal Edition in Wien, zitiert

„Als einer der radikalsten Vertreter der sogenannten sowjetischen Avantgarde durchlebte Pärts Werk eine tiefe Evolution. Seine erste Schaffensperiode begann mit neoklassizistischer Klaviermusik. Danach folgten zehn Jahre, in denen er auf eigenständige Weise die wichtigsten Kompositionstechniken der Avantgarde – Dodekaphonie, Klangflächen-Komposition, Collage, Aleatorik etc. anwandte … Von 1968 an waren alle seine bisherigen kompositionstechnischen Mittel für Pärt inhaltslos geworden, sie hatten für ihn jegliche Anziehungskraft verloren. Die Suche nach seiner eigenen Stimme treibt ihn in einen beinahe acht Jahre dauernden, schöpferischen Rückzug, während dessen er sich mit dem Gregorianischen Choral, der Schule von Notre Dame und der klassischen Vokalpolyphonie auseinander setzt. 1976 erhebt sich Musik aus dem Schweigen: das kleine Klavierstück Für Alina. Es ist offenkundig, dass Pärt mit diesem Stück zu sich gefunden hatte. Das neue kompositorische Prinzip, das er darin erstmals anwendete und Tintinnabuli (lat. Glöckchen) nannte, bestimmt sein Werk bis heute. Das Tintinnabuli-Prinzip strebt nicht nach einer progressiv anwachsenden Komplexität, sondern nach äußerster Reduktion des Klangmaterials und Beschränkung auf das Wesentliche.“

Pärt selbst erklärte die neue Technik so: „Es war das erste Stück auf einem neuen Niveau. Dort entdeckte ich die Dreiklangfolge, die ich zu meiner simplen, kleinen Grundregel gemacht habe.“ Die Umkehrungen einer bestimmten Dreiklangfolge bilden den Kern der Tintinnabuli, aber auch der Klangcharakter der Glocken: „die komplexe, aber reiche, sonore Masse an Obertönen im Glockenklang, das allmähliche Entfalten von Mustern im Klang selbst und die Idee eines Klangs, der zugleich statisch und fluktuierend ist“. 1978 wurde er in einem Interview gefragt, was er mit der Technik der Tintinnabuli finden wolle. Seine Antwort war lakonisch: „Unendlichkeit und Keuschheit“. Als der Interviewer insistierte, was denn „Keuschheit“ in diesem Zusammenhang bedeute, sagte Pärt ausnahmsweise einmal mehr als drei Worte: „Ich kann es nicht erklären, man muss es wissen, man muss es fühlen, man muss es suchen, man muss es entdecken, man muss es ersehnen – der ganze Rest kommt von allein. Dann wird man Ohren bekommen, um zu hören, und Augen, um zu sehen.“

FRATRES

Das viertelstündige Stück Fratres gilt als klassisches Beispiel für die Tintinnabuli-Technik: Ein Bordun und trommelartige Quinten eröffnen das Stück. Über dem Bordun hört man eine harmonische Sequenz aus zunächst fallenden, dann aufsteigenden Akkorden. Diese wird insgesamt neunmal gebracht, gegliedert durch das immer wiederkehrende Trommelmotiv. Die neun Akkordsequenzen folgen einer bestimmten mathematischen Formel. Diesen Algorithmus haben mehrere Kenner des Stückes beschrieben, u.a. der Schwede Linus Akerson. Was er zur Wirkung des Stückes geschrieben hat, sei hier zitiert, ohne seinen ausführlichen Analysen des mathematischen Bauprinzips weiter zu folgen:

„Das Analytische trifft das Ästhetische, indem uns Pärt auf eine meditative Reise in die Geheimnisse der Harmonie mitnimmt, die auf einfachen mathematischen Regeln beruht. Viele Menschen, die Fratres zum ersten Mal hören, finden es repetitiv oder sogar langweilig. Nach einer Weile aber beginnen sie, unterbewusst einige der Muster in der Musik wahrzunehmen. Sie entwickeln gewissermaßen ein Gefühl dafür, was in der Sequenz als Nächstes kommen muss. Falls es sich um Menschen handelt, die gerne nachforschen und Rätseln auf den Grund gehen, werden sie auch versuchen, die Muster rational zu verstehen. Es ist dieses allmähliche Erwachen, was an Fratres so fasziniert, ob es nun vom Komponisten so gedacht war oder nicht.“

Fratres wurde 1977 für Streichquintett und Bläserquintett komponiert. Seitdem hat das Werk viele Metamorphosen durchlaufen. Pärt entwickelte aus dem Original einerseits Duoversionen für Violine bzw. Viola oder Violoncello und Klavier, andererseits eine Fassung für Solovioline, Streichorchester und Schlagzeug, die am bekanntesten wurde. Aus dem besonderen Klang dieser Version ist auch die Fassung für Streichquartett hervorgegangen.