Sonate Nr. 5 G-Dur | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Eugène Ysaÿe

Sonate Nr. 5 G-Dur

Sonate Nr. 5 G-Dur für Violine solo L’Aurore à Matthieu Crickboom

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer:

Satzbezeichnung

Lento assai
Danse rustique
Moderato amabile

Erläuterung

24 Stunden genügten dem Grandseigneur der belgischen Geigenschule, um 1923 in seiner Villa La Chantarelle im Badeort Zout seine sechs Solosonaten zu entwerfen. In jenen ruhigeren Jahren nach dem Ersten Weltkrieg hatte Ysaÿe sein Konzertpensum erheblich reduziert, nicht zuletzt wegen einer beginnenden Diabetes. Diesem Umstand und seiner Obsession für Bach verdanken wir den sechsteiligen Zyklus. Ohne jemals Kompositionsunterricht genossen zu haben, war er auf seine Intuition und auf Bachs Vorbild angewiesen, von dem er sich nur schwer lösen konnte: „Bach verschreckt jeden, der versucht, seinen eigenen Weg zu finden. Er ist ein unerreichbarer Gipfel.“ Dennoch gelang Ysaÿe eine ganz eigene Synthese aus der Polyphonie des großen Vorbilds, aus spätromantischen Stimmungsbildern und seiner eigenen „berühmten Brillanz und Durchsichtigkeit“, wie es Nathan Milstein nannte.

Noch ein anderer Streicherkollege hat ein rührendes Bild von Ysaÿe entworfen: der katalanische Cellist Pablo Casals. In seinen Erinnerungen schrieb er über den großen Belgier: „Für mich ist Brüssel mit den Namen zweier ganz einzigartiger Menschen verbunden. Ich rede von dem unvergleichlichen belgischen Geiger Eugène Ysaÿe und von einer wahrhaft edlen Frau, der Königin Elisabeth der Belgier … Als Geiger natürlich weltberühmt, war Ysaÿe auch ein hervorragender Dirigent, dessen Orchester zu den besten Europas gehörte … Er war ein Riese von einem Mann, aber ein graziöser Riese, der sich mit Leichtigkeit und ohne Mühe bewegte. Mit seinem majestätischen Haupt und seinen wundervollen Augen erinnerte er mich immer an einen Löwen. Nie habe ich einen Künstler erlebt, dessen Auftreten auf dem Podium eindrucksvoller gewesen wäre. So groß er war, soviel Herz hatte er auch: Er war ein Mann von überströmender Wärme und Großmütigkeit und voller unbändiger Lebenslust. Er schöpfte aus dem Vollen – wie er sagte, hatte er seine Kerze an beiden Seiten angezündet –, und sein Feuergeist sprang auf die Musik über und adelte sie. Wenn er spielte, fühlte man sich als ein besserer Mensch.“

Jede der sechs Solosonaten hat Ysaÿe einem anderen Kollegen gewidmet, die fünfte seinem Schüler Matthieu Chrickboom. 1871 in Verviers geboren und 1947 in Brüssel gestorben, gehörte der Belgier zu den herausragenden Virtuosen seiner Zeit, die heute leider fast vergessen sind. Dies mag daran liegen, dass er mehr in der Kammermusik als im großen Konzertsaal zuhause war. Mit dem eben zitierten Pablo Casals und dem Komponisten Enrique Granados am Klavier gründete er in Barcelona ein Klaviertrio. Im Quatuor Ysaÿe spielte er die zweite Violine. Daneben gehörte er zu den großen Pädagogen seines Instruments, berühmt für seine Geigenschule und seine Etüden. Als sen Lehrer Ysaÿe für ihn die 5. Solosonate komponierte, war Crickboom Anfang 50 und Professor am Lütticher Konservatorium. Die Sonate klingt aber nicht professoral, sondern taufrisch: L’Aurore, „Die Morgenröte“, ist ihr Titel. Ysaÿe hat zuerst in einem zarten Lento den Sonnenaufgang geschildert, dann einen ländlichen Tanz am Morgen in ihrer belgischen Heimat, schließlich ein „liebreizendes“ Allegro ans Ende gestellt, vielleicht die Schilderung einer Spazierfahrt mit einer schönen Frau.