Cellosonate Dört Şehir | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Fazil Say

Cellosonate Dört Şehir

Cellosonate Dört Şehir (Vier Städte)

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer:

Satzbezeichnung

Sivas
Hopa
Ankara
Bodrum

Erläuterung

2019
Fazıl Say, der bekannteste Pianist und Komponist der Türkei, war im letzten Jahr bei Villa Musica zu Gast. Seinem Charme und seinem genialen Klavierspiel erlag nicht nur das Villa Musica-Publikum in Landau und Kaiserslautern, sondern auch eine kleine Schar von Villa Musica-Stipendiaten, die mit ihm und Alexander Hülshoff sein Klavierquintett spielte. Ein ähnlich anschauliches Werk auf den Spuren seiner türkischen Heimat ist die Cellosonate von 2012.

1970 in Ankara geboren, begann Fazıl Say schon mit vier Jahren, Klavier zu spielen, im Alter von elf Jahren nahm er sein Klavierstudium auf. Ein Workshop mit David Levine und Aribert Reimann in Ankara weckte sein Interesse am Komponieren. Die beiden Komponisten vermittelten dem Nachwuchstalent später einen Aufenthalt an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf. Von 1992 bis 1995 setzte Say sein Studium in Berlin fort. Als Sechzehnjähriger komponierte er sein Werk Black Hymns. Gleichzeitig beflügelte der 1. Preis bei den Young Concert Artists Auditions in New York seine Karriere als Pianist. Seitdem gibt Fazıl Say mehr als hundert Konzerte im Jahr, wobei er auch immer eigene Werke spielt. Unter seinen größer besetzten Werken sind das 2. Klavierkonzert Silk Road, 1996 in Boston uraufgeführt, das Oratorium Nâzım auf Verse des türkischen Dichters Nâzım Hikmet (2001) und das Requiem für Metin Altıok (2003). 2002 schrieb er im Auftrag von Radio France und Kurt Masur ein 3. Klavierkonzert. Das Violinkonzert für Patricia Kopatchinskaja, komponiert unter dem anspielungsreichen Titel 1001 Nights in the Harem, war sein erstes ambitioniertes Orchesterwerk ohne einen eigenen Klavierpart. Zahlreiche Preise zieren seinen Werdegang als Pianist wie Komponist.

Seine Cellosonate hat Say für sich und den Cellisten Nicolas Altstaedt geschrieben. Die Uraufführung fand im Sommer 2012 beim City of London Festival statt. Der Erfolg war quasi vorprogrammiert, auch für die folgende CD-Einspielung. Wie so oft hat Say hier seiner Heimat ein musikalisches Denkmal gesetzt. Vier Städte Anatoliens liehen den Sätzen ihren Namen und erklären den Titel Dört Şehir (Vier Städte): Sivas, Hoprum, Ankara und Boda.

Die Musik ist wie stets bei Say anschaulich und konkret. „Das Cello verwandelt sich in eine Flöte, eine Fiedel, ein Perkussionsinstrument – und dann wird es zur Stimme der Menschen, denen wir hier begegnen.“ So meinte Nicolas Altstaedt über seinen Part in der Sonate. Der Londoner Musikjournalist Rob Cowan hat den Stil der Sonate anschaulich beschrieben:
„Die extrem gefällige Cellosonate von Say beginnt mit quasi-minimalistischer Musik. Der erste Satz Sivas erinnert an einen bestimmten Dichter und ein einheimisches Instrument (die lautenartige saz), doch lässt der sinnlich warme Beginn nicht erahnen, welche Überraschungen der Satz noch bereithält. Das Cello verwandelt sich am Ende in eine Art tirilierende Panflöte. Der zweite Satz Hopa wirft den Zuhörer mitten hinein in einen wilden Tanz; weder bei Bartók noch bei den Gipsy Bands unserer Tage gibt es Vergleichbares. Die originellsten Episoden aber finden sich im zehnminütigen dritten Satz mit dem Titel Ankara, ein Tribut an Says Heimatstadt. In dem genialen Klanggemisch aus präpartiertem Klavier und koloristischen Effekten des Cellos kann man oft nicht unterscheiden, welches Instrument was spielt. Das Finale beginnt mit einem wilden Ritt und endet mit dem musikalischen Gegenstück einer Kneipenrauferei. Mit diesem Stück kann man jedem Jugendlichen Paroli bieten, der schon gähnt, wenn er nur einer Cellosonate zuhören muss. Selbst er würde Four Cities wieder hören wollen. Diese Sonate ist die Personifizierung von Jugendlichkeit.“ (Rob Cowan)

Der unterschiedliche Charakter der vier Städte ist in den vier Sätzen deutlich zu erkennen.

Sivas: Im ersten Satz geht es um die alte Stadt Sivas, auf Deutsch auch „Sebaste“ genannt, die Stadt der Dichter und Denker, aber auch des Hl. Blasius, der hier im frühen 4. Jahrhundert Bischof war und als Märtyrer starb. Entsprechend vielfältig war das Leben in Sebaste: muslimisch, und christlich, alevitisch, armenisch, türkisch und persisch in vielfacher Durchmischung. Sivas war aber auch die Stadt des Nationalkongresses von 1919, der zur Gründung der modernen Türkei führte. Sie liegt in Zentralanatolien, 450 km östlich von Ankara entfernt, wird von den alten Bauten der Seldschuken geprägt und vom Erbe Atatürks. Say nahm sich ein Lied des alevitischen Dichters As¸ık Veysel zum Vorbild, Sazım („Meine Saz“). Gegen Ende wird die Musik auch zur Huldigung an den Klang der lautenartigen Saz.

Hopa: Die Kleinstadt am Schwarzen Meer liegt an der Grenze nach Georgien und hat ihre ganz eigene Folklore-Tradition, beeinflusst vom Nachbarland. Fazıl Say ließ sich von einer traditionellen Hochzeit zu einer Art Folklore-Scherzo im Stil Schostakowitschs inspirieren. Im Zentrum stehen der Tanz Horon mit seinem 7/16-Metrum und der Klang der Kemençe, des berühmtesten Instruments der Region. Auch Anklänge an bekannte Volkslieder werden hier verarbeitet.

Ankara: Die 4-Millionen-Stadt im Herzen Anatoliens dient dem langsamen Satz der Sonate als Thema. Seit 1923 Hauptstadt der modernen Türkei, ist sie zugleich die Heimatstadt von Fazıl Say. Sein gespanntes Verhältnis zur gegenwärtigen Staatsregierung schlägt sich auch in diesem Satz nieder. In den Eckteilen hört man Demonstrationen auf der Straße und das vielfältige Großstadt-Gewirr. Im Mittelteil wird aus dem Revolutionslied Ankara’nın tas¸ına bak, entstanden während des Ersten Weltkriegs, eine Trauermusik.

Bodrum: Die Hafenstadt an der Südwestküste Kleinasiens hieß bei den Griechen Halikarnassos und war für ihr Mausoleum berühmt, eines der sieben antiken Weltwunder. Unter den Osmanen verkam sie zum Fischerdorf, doch in den letzten Jahrzehnten feierte sie eine Renaissance, dank der reichen Familien aus den großen Städten, die im „Rimini der Türkei“ ihre Jachten und Villen für die Sommerfrische vorhalten, aber auch dank der vielen Touristen. Die Jüngeren treffen sich nachts in der Cumhurriyet Caddesi, der Vergnügungsstraße mit ihren Bars und Kneipen, wo jede Art Musik ertönt – vom türkischen Rock bis zur Folklore. Dieses Gemisch hat Fazıl Say seinem Finale zugrunde gelegt, inklusive diverser Zitate aus heute populären Songs wie Yıldızların altında oder Uzun ince bir yoldayım. Der Satz wird immer hitziger, bis sich die Spannung zum Schluss in einer Schlägerei entlädt.