Contrapunctus I bis IV, BWV 1080 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Johann Sebastian Bach

Contrapunctus I bis IV, BWV 1080

Contrapunctus I bis IV für Cembalo (Streichquartett), aus: „Kunst der Fuge“, BWV 1080

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 63

Satzbezeichnungen

Erläuterungen

2004
J. S. BACH
Die Kunst der Fuge I-IV

Wenn Johann Sebastian Bach in den 1740er Jahren den Weg von seiner Kantorenwohnung in der Thomasschule zum Zimmermannschen Kaffeehaus oder einem anderen modischen Etablissmenet der Messestadt Leipzig zurücklegte, dürfte er nur selten in Ruhe über dem Hauptthema der Kunst der Fuge gebrütet haben. Viel öfter dürfte er sich über den Starrsinn „einer der Musik wenig ergebenen Obrigkeit“ und über die schlechten Einnahmen als Thomaskantor die Haare gerauft haben. Heute thront Bach so unangefochten über dem Leipziger Musikleben, dass man fast vergisst, wie schlecht ihn zu Lebzeiten seine dortigen Vorgesetzten behandelten und welcher Anstrengungen es bedurfte, sein Werk und seine Gestalt posthum dem Vergessen zu entreißen. Andererseits übertreibt man gerne den Mythos vom verkannten Genie, auch in seinem Fall. Die bedeutenden Geister Leipzigs wie der Dichter Gottsched, der zeitweilige Thomaschulrektor Gesner oder die musischen unter den Ratsherren erkannten sehr wohl, was sie an Bach hatten.

Von 1723 bis zu seinem Tod 1750 lebte Bach mit seiner Familie in jener dreistöckigen Wohnung im linken Flügel der Thomasschule, die traditionell dem Kantor zustand (und die in Bachs Ära immerhin einmal gründlich renoviert wurde!) Wäre die Thomasschule nicht im 19. Jahrhundert abgerissen worden, Bachs Komponierstübchen zählte heute zu den Heiligtümern der deutschen Musik, hat er doch an seinem Schreibtisch die meisten seiner großen Werke komponiert: die Passionen und das Weihnachtsoratorium, die h-Moll-Messe und die Kantaten, die diversen Teile der Clavierübung und die Spätwerke.
Unter letzteren gilt Die Kunst der Fuge als Bachs „letztes Werk“, was jedoch nur für jene Druckfassung gilt, die bei seinem Tode noch nicht abgeschlossen war. Was Bach in seinen letzten Lebensmonaten zum Druck vorbereitete, war die Überarbeitung eines praktischen Lehrwerks zum Thema der Fugenkompsoition, an dem er seit den frühen 1740er Jahren gearbeitet hatte. Bereits um 1742, acht Jahre vor seinem Tod, hatte er eine erste autographe Reinschrift der Sammlung angefertigt, die mit dem späteren Druck in weiten Teilen identisch ist. Die Kunst der Fuge ist also zeitlich in der Nachbarschaft der Goldberg-Variationen und des Wohltemperierten Claviers II einzuordnen und nicht etwa als Opus ultimum „auf dem Sterbebett“ zu deuten.
Das Werk sollte alle Möglichkeiten der Fugenkomposition ausschöpfen, wie es die Goldbergvariationen, das Musicalische Opfer und die Canonischen Veränderungen mit dem Kanon taten. Die Kunst der Fuge war ein angemessener Titel für dieses Vorhaben. Unter Bachs Händen gewann das Projekt eines praktischen Lehrwerks eine ungeahnt systematische Qualität. Allein der Umstand, dass hier ein einziges Thema und seine Umkehrung in 14 Fugen und 4 Kanons verarbeitet wurde (die 14. Fuge ist bekanntlich nicht fertig geworden) und dass jedes dieser Stücke eine andere Form des Kontrapunkts exemplarisch vor Augen führt, belegt Bachs lehrhafte Absicht. Er hat hier seine Gradus ad parnassum geschrieben – nicht wie Fux als lateinischen Traktat, sondern als praktische Anwendung für alle, die diese Kunst zu lesen und zu deuten verstehen.

Das Werk gliedert sich in mehrere Abteilungen, die zuerst Thema und Umkehrung separat verarbeiten, dann in Doppel- und Tripelfugen kombinieren, um schließlich zu Sonderformen des Kontrapunkts wie Spiegelfuge und Kanon überzugehen. Neben dem Kontrapunkt in der einfachen Umkehrung der Oktav wendete Bach auch solche Formen an, in denen das Thema im Kontrapunkt der Dezime oder Duodezime verarbeitet wird, in Vergrößerung und Spiegelung.
Contrapunctus I bis IV bilden das Exordium des Zyklus: vier einfache Fugen im Kontrapunkt der Oktav, von denen die ersten beiden das Thema in der Grundgestalt, die nächsten beiden in der Umkehrung verwenden. Dabei erhält jede Fuge ihr eigenes stilistisches Gepräge: Contrapunctus I mutet wie ein polyphoner Chorsatz aus der Zeit Palestrinas an. Der alternde Bach beschäftigte sich intensiv mit dieser Renaissance-Tradition des Kontrapunkts, dem Stile antico. Hier hat er ihn exemplarisch auf sein Thema angewendet. In der zweiten Fuge dagegen mündet das Thema in punktierte Rhythmen von typisch barocker Motorik und fast schon tänzerischem Elan. Contrapunctus III kehrt wieder zum fließenden Duktus des Stile antico zurück, dieses Mal jedoch durchsetzt von ausdrucksstarker Chromatik. In der vierten Fuge wird diese Chromatik – wie stets bei Bach Symbol für menschliches Leid und Sünde – nochmals gesteigert, indem sich zur Umkehrung des Themas ein Kontrapunkt gesellt, dessen kleine Sekunden klagend um die Quint kreisen. Diese extreme Chromatik kennt man aus anderen Spätwerken Bachs. Es ist bezeichnend, dass er diesen Contrapunctus IV erst für die Druckfassung neu komponiert hat, während die ersten drei Fugen schon in der Frühfassung der Kunst der Fuge stehen.

2000
Als Bach um 1742 begann, sich mit seinem kontrapunktischen Spätwerk über die Möglichkeiten der Fugenkomposition zu beschäftigen, lagen ihm als Vorbilder die Kontrapunkte eines Fux, die Fugen alten und neuen Stils deutscher Organisten, Lautenisten und Cembalisten vor. Dennoch gewann die Kunst der Fuga, wie das Werk später heißen sollte, unter seinen Händen eine ganz neue Qualität als Demonstrationswerk aller denkbaren kontrapunktischen Künste.
Allein der Umstand, dass hier ein einziges Thema und seine Umkehrung in insgesamt 14 Fugen und 4 Kanons verarbeitet wurde (die 14. Fuge ist bekanntlich nicht fertig geworden) und dass jedes dieser Stücke eine andere Form des Kontrapunkts exemplarisch vor Augen führt, belegt Bachs lehrhafte Absicht. Er hat hier gewissermaßen seine Gradus ad parnassum geschrieben – nicht wie Fux als lateinischen Traktat in einem lehrhaften Gespräch zwischen Schüler und Lehrer mit Notenanalysen, sondern als ganz praktische Fugensammlung zum Selbststudium für alle, die diese Kunst zu interpretieren verstanden.

In Contrapuctus I und III, unseren Beispielen aus der Kunst der Fuge, ist die analytische Anforderung an den Leser respektive Hörer noch relativ gering. Bei beiden Kontrapunkten handelt es sich um einfache Fugen, Nr. 1 über das Thema in Grundgestalt, zwar im Palestrinastil, aber doch in der Harmonik unverkennbar bachisch; Nr. 3 ist eine chromatische Fuge über die Umkehrung des Grundthemas mit obligatem Kontrapunkt.
Erst ab Contrapunctus V beginnen die komplizierteren Fugengattungen zu greifen: Doppelfugen, Tripelfugen, Spiegelfugen und die geplante Quadrupelfuge, im Kontrapunkt der Oktav, der Dezim oder Duodezim, mit oder ohne Vergrößerung bzw. Verkleinerung oder beidem.
Es ist dies eine Materie, mit der wir uns im Rahmen dieses Konzertes Gott sei Dank nicht mehr beschäftigen müssen, obwohl sie in vielen der älteren Ensemblesonaten des Programms bereits in nuce enthalten ist.

2000
KUNST DER FUGE

Seine Vorrede zum Erstdruck der Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach eröffnete Friedrich Wilhelm Marpurg mit folgenden Sätzen: „Wenn ich mich gegen die respektablen Erben des seeligen Herrn Capellmeisters Bach verbindlich gemacht habe, gegenwärtiges Werk mit einer Vorrede zu begleiten: So geschieht dieses mit desto mehrerm Vergnügen, weil ich dadurch Gelegenheit bekomme, meine Hochachtung gegen die Asche dieses berühmten Mannes öffentlich zu erneuern… Ein vortrefflicher Tonkünstler seyn, und die Vorzüge des seel. Bach nicht zu schätzen wißen, ist ein Widerspruch. Es schwebet noch allen, die das Glück gehabt, ihn zu hören, seine erstauenende Fertigkeit im Erfinden und Extemporisiren im Gedächtnis, und sein in allen Tonarten sich ähnlicher glücklicher Vortrag in den schwersten Gängen und Wendungen ist allezeit von den größten Meistern des Griffbretts beneidet worden. Thut man aber einen Blick in seine Scghriften: so könnte man … den Beweiß hernehmen, daß ihn keiner in der tiefen Wissenschaft und Ausübung der Harmonie, ich will sagen in der tiefsinnigen Durcharbeitung sonderbarer, sinnreicher, von der gemeinen Art entfernter und doch dabey natürlichern gedanken übertroffen wird.“
Das Flanders Recorder Quartet tritt im heutigen Konzert gleich in mehrfacher Hinsicht in die von Marpurg so eindringlich beschriebenen Fußstapfen des „seel. Herrn Capellmeisters Bach“, an dessen 250. Todestag sich die Musikwelt vor zwei Monaten erinnerte. Zum einen sind die vier Flötisten aus Flandern selbst „Meister des Griffbretts“ – wenn auch auf der Blockflöte, nicht der Orgel -, die durch ihren „glücklichen Vortrag“ allgemein Bewunderung erregen. Zum anderen haben sie im heutigen Programm durchweg Werke zusammengestellt, die von einer „tiefsinnigen Durcharbeitung sonderbarer, sinnreicher Gedanken“ geprägt sind: kleine Meisterwerke des Kontrapunkts aus der Zeit vor Bach, von Bach selbst und aus unserem Jahrhundert. Kontrapunkte aus der Kunst der Fuge dürfen dabei ebenso wenig fehlen wie die Spielarten des Kontrapunkts in Renaissance und Frühbarock: Chanson und Canzona, Bassvariation und imitatorische Sonate. Auch die Choralbearbeitung ist mit einem Bachstück vertreten. Die Künstler haben ihre kleine Geschichte der Fuge und ihrer Verwandten in sieben Abschnitte gegliedert, denen unser Text folgt.

KUNST DER FUGE I
Bachs kontrapunktisches Spätwerk mit dem posthumen Titel Kunst der Fuge knüpft an die polyphone Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts an. Bereits der einleitende Contrapunctus I offenbart im ruhigen Fluss der vier Stimmen und der durchweg gesanglichen Anlage jeder einzelnen von ihnen den Rückbezug zu den Motetten der Renaissance, an einen polyphonen Satz von absoluter Ausgeglichenheit der Stimmen, wie er etwa von Isaac benutzt wurde. Zu Bachs Zeit war diese Art der Polyphonie altmodisch, aber nicht aus der Mode. Gerade in den 1740er Jahren, in denen Bach sein Alterswerk schrieb, war eine deutliche Tendenz zum „Stile antico“, dem „alten Stil“ der Renaisaance-Polyphonie zu spüren. Kein anderer Komponist freilich widmete diesem Phänomen eine komplette Fugensammlung, wie es Bach tat.

Als er um 1742 begann, sich mit seinem kontrapunktischen Spätwerk über die Möglichkeiten der Fugenkomposition zu beschäftigen, lagen ihm als Vorbilder die Fugen alten und neuen Stils deutscher, spanischer, italienischer, flämischer und österreichischer Kontrapunktmeister vor. Dennoch gewann die Kunst der Fuga, wie das Werk später heißen sollte, unter seinen Händen eine ganz neue Qualität als Demonstrationswerk aller denkbaren kontrapunktischen Künste. Allein der Umstand, dass hier ein einziges Thema und seine Umkehrung in insgesamt 14 Fugen und 4 Kanons verarbeitet wurde (die 14. Fuge ist bekanntlich nicht fertig geworden) und dass jedes dieser Stücke eine andere Form des Kontrapunkts exemplarisch vor Augen führt, belegt Bachs lehrhafte Absicht. Er hat hier gewissermaßen seine Gradus ad parnassum geschrieben – nicht wie Fux als lateinischen Traktat in einem lehrhaften Gespräch zwischen Schüler und Lehrer mit Notenanalysen, sondern als ganz praktische Fugensammlung zum Selbststudium für alle, die diese Kunst zu interpretieren verstanden.

Im Contrapunctus I ist die analytische Anforderung an den Hörer noch relativ gering. Es handelt sich um eine einfache Fuge über das Thema in Grundgestalt, zwar im Palestrinastil gehalten, doch in der Harmonik unverkennbar bachisch. Mit Contrapunctus V beginnen die komplizierteren Fugengattungen zu greifen: Doppelfugen, Tripelfugen und Spiegelfugen, solche im Kontrapunkt der Oktav, der Dezim und Duodezim, mit oder ohne Vergrößerung bzw. Verkleinerung oder beidem. Bei Contrapunctus IX handelt es sich um eine Doppelfuge in der Dezim, d.h. das Grundthema und sein Gegenthema sind sowohl im Oktavanbstand als auch umgekehrt im Dezimenabstand kombinierbar. Zunächst wird das Gegenthema – ein Laufthema von barpcker Motorik – vorgestellt, dann erst erscheint das Grundthema, um die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten unter Beweis zu stellen. Bei alldem bleibt der Satz stets pure Musik von ansteckender Vitalität und typisch bachischer Ausdruckskraft.