Cembalokonzert d-Moll, BWV 1052 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Johann Sebastian Bach

Cembalokonzert d-Moll, BWV 1052

Konzert d-Moll für Cembalo (Klavier), Streicher und Basso continuo, BWV 1052

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 72

Satzbezeichnungen

1. Allegro

2. Adagio

3. Allegro

Erläuterungen

Um 1738 machte sich Johann Sebastian Bach an eine sicher seit längerem geplante Arbeit: Er schrieb in einer einzigen Partitur den Zyklus seiner Cembalokonzerte nieder. In dieses Manuskript trug er nach der Reihe acht Konzerte à Cembalo certato, due Violini, Viola e Continuo ein, zwei davon zusätzlich mit Bläsern. An den Anfang stellte er die drei großen Konzerte in d-Moll, E-Dur und D-Dur, danach die drei kleineren in A-Dur, f-Moll und F-Dur, letzteres mit Blockflöten. Auf diese erste Sechsergruppe sollte offenbar eine zweite folgen, die Bach aber nach dem siebten Konzert in g und wenigen Takten das achten in d (mit Oboe) abbrach. Im Bachwerkeverzeichnis tragen diese Stücke die Nummern BWV 1052-1059.

Der Sinn dieser Handschrift war es, Solokonzerten, die seit Jahren zu Bachs Repertoire gehörten, eine Fassung letzter Hand zu geben. Dabei griff der Thomaskantor noch kräftig ein, korrigierte, fügte hinzu und änderte, was ihm am Cembalopart noch zu wenig glänzend und vollgriffig erschien, denn keines der acht Konzerte war ein originales Cembalokonzert. Bach bearbeitete hier frühere Violin- oder Oboenkonzerte, deren Solopart er für das Tasteninstrument arrangierte. Nur in drei Fällen kennen wir die Urfassungen: die Violinkonzerte in E und a und das 4. Brandenburgische Konzert, die Vorlagen für die Cembalokonzerte BWV 1054, 1057 und 1058. In drei weiteren Fällen sind zwar keine Urfassungen erhalten, dafür aber Zwischenfassungen für Orgel und Orchester, die noch einiges vom „Vorleben“ der Werke als Violin- oder Oboenkonzerte verraten.

Dies gilt auch für das d-Moll-Cembalokonzert BWV 1052: Seinen Kopfsatz verwendete Bach 1726 in der Kantate BWV 146 als Vorspiel, den zweiten Satz für den Eingangschor „Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen“, indem er vier Singstimmen in den Konzertsatz hineinkomponierte. Das tänzerische Finale diente ihm zwei Jahre später als Sinfonia zur Kantate BWV 188 „Ich habe meine Zuversicht“. Ohne den einkomponierten Chor könnte Bach das d-Moll-Konzert auch als Orgelkonzert mit Orchester aufgeführt haben, und zwar im September 1725, als er an der Silbermannorgel der Dresdner Sophienkirche ein viel beachtetes Konzert mit der Dresdner Hofkapelle gab.

So lassen sich für dieses größte und virtuoseste Cembalokonzert Bachs mutmaßlich vier Fassungen annehmen: die verlorene Urfassung, ein hoch virtuoses Violinkonzert aus der Zeit vor 1720, eine Dresdner Fassung als Orgelkonzert mit Orchester von 1725, Orgelfassungen in Bachs Kantatenrepertoire aus den späteren 1720er Jahren und die uns geläufige Version für Cembalo und Streicher. Die Urfassung als Violinkonzert in d-Moll hat man mehrfach rekonstruiert, eine „Tour de force“ für den Solisten, da Bach hier ausnahmsweise auf das Virtuosenkonzert nach dem Vorbild Vivaldis zurückgriff. So hat er etwa die Bariolage, den Wechsel zwischen leerer und gegriffener Seite, im Kopfsatz für lange, äußerst schwierige Violinpassagen benutzt. Für die Fassung als Cembalokonzert entwickelte Bach aus dieser hypervirtuosen Geigenstimme einen vollgriffigen Cembalosatz in weitesten Dimensionen mit aufsehenerregenden „clavieristischen“ Effekten.

Soweit zur komplizierten Entstehungsgeschichte von BWV 1052. Während alle anderen Cembalokonzerte Bachs nach seinem Tod rasch in Vergessenheit gerieten, erfreute sich das d-Moll-Konzert auch im 19. Jahrhundert großer Beliebtheit. Dies war das Verdienst Felix Mendelssohns, der sich schon früh ein Aufführungsmaterial davon besorgt hatte und es regelmäßig auf seine Programme setzte – wohl wissend, dass es alle Anforderungen an ein Virtuosenkonzert erfüllte und zugleich in seinem düsteren „Sturm und Drang“ das romantische Zeitalter besonders ansprechen musste.

Das erste Allegro beginnt im Unisono, mit einem drängenden Thema der Streicher, das als „Ritornell“ zwischen den Episoden des Solisten immer wiederkehrt. Seinen trotzig düsteren Charakter verdankt es dem daktylischen Rhythmus der ersten drei Noten und dem Quintsprung mit Synkope, deren geballte Energie sich in einer Kette gebrochener Dreiklänge entlädt. Ähnlich ungestüm setzt der Solist ein: mit Sechzehntelläufen in beiden Händen, die einander wie in einer Toccata nachjagen – ein Einfall, den Bach erst beim Niederschreiben der autographen Partitur hatte, wie man heute noch schön sehen kann. Überhaupt lässt sich an der Originalpartitur die Sorgfalt ablesen, mit der er den ehemaligen Violinsolopart in idiomatische Cembalomusik verwandelte. So hat er bewegte Läufe und kontrapunktische Gegenstimmen in der linken Hand hinzugefügt, vollgriffige Akkorde ergänzt und typische geigerische Klangeffekte dem Tasteninstrument angepasst. In weiten Teilen des Satzes spielen die Streicher einander Motive des Ritornells zu, während das Cembalo gebrochene Dreiklänge wie eine Folie über ihre motivische Arbeit legt. Die widerborstige Energie des Ritornells nimmt ständig zu, ebenso die Virtuosität des Solisten, was den unglaublichen „Drive“ dieses Satzes erklärt. Zwischen die diversen Ausarbeitungen des Ritornells hat Bach drei große Soli eingeschaltet: zunächst den toccatenhaften Einstieg, dann eine lange Passage aus schnellen Tonrepetetionen in der Dominante a-Moll, schließlich das letzte Solo, das von der Subdominante g-Moll zur Grundtonart zurückführt. Dies geschieht zunächst in raumgreifenden Läufen, dann in einer langen Bariolage über dem Ton D mit scharfen Dissonanzen in der rechten Hand, schließlich in gebrochenen Dreiklängen. Dieses letzte Solo wirkt – nach einer kurzen Solokadenz in der Mitte des Satzes – wie eine zweite lange Kadenz, deren Modulationen unweigerlich die Reprise des Ritornells heranlocken. Freilich stürzen sich Cembalo und Streicher danach noch einmal in bewegtes Konzertieren, bevor das Thema endgültig bestätigt wird und den Satz so beschließt, wie es ihn eröffnet hat.

Der langsame Satz weicht nicht ins tröstliche Dur aus, sondern in die Moll-Subdominante g-Moll. Auch er beginnt im Unisono wie der erste Satz, mit einem schwer lastenden Thema aus gebrochenen Dreiklängen in lauter Zweierbindungen, das von Seufzermotiven und Pausen unterbrochen wird. Im Sinne einer Passacaglia zieht dieses Thema im Bass unablässig seine Bahn. Darüber entfalten das Cembalo und die hohen Streicher einen leiderfüllten Dialog. Es überrascht nicht, dass Bach diesem Satz im Eingangschor der Kantate BWV 146 die Worte des Hl. Paulus „Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen“ unterlegte.

Das Finale steht im tänzerischen Dreiertakt und wird ganz von der Motorik typisch barocker Anapästrhythmen geprägt. Auch hier gehen die Streicher mit einem kraftvollen Thema voran, das aus drei charakteristischen Motiven besteht: absteigende Skala, langsamer Aufstieg in Anapästmotiven, gebrochene Dreiklänge, die zur Kadenz führen. Dieses letzte Motiv greift der Solist auf und entwickelt daraus ein selbstbewusstes Solothema, mit dem er den Streichern gegenübertritt. Diese protestieren sofort mit den Motiven ihres eigenen Themas. Es entsteht ein lebhafter Wettstreit zwischen Solo- und Tuttithema, der die ganze erste Hälfte des Satzes prägt. Dabei wird das Streicherthema zergliedert und nach allen Regeln der Kunst ausgearbeitet. Schließlich setzt der Cembalist mit dem ersten großen Solo ein, das von rasenden Läufen und Bariolagen geprägt wird. Nach der Wiederkehr des Ritornells folgt die zweite Solopassage aus gebrochenen Dreiklängen. Im dritten Solo mischen sich Cembaloläufe in hoher Lage mit begleitenden Akkorden der Geigen und Bratschen zu einem fast gespentischen Klang. Danach kehrt zuerst das Solothema wieder, dann das Thema der Streicher in der Grundtonart d-Moll. Der Satz scheint seinem Ende zuzustreben, als plötzlich das Cembalo noch einmal das Heft an sich reißt. Rasende Sechzehntel in beiden Händen kündigen das virtuoseste Solo des gesamten Konzertes an, das sich zur veritablen Kadenz steigert. Sie gipfelt in geradezu irrwitzigen gebrochenen Dreiklängen und einem pathetischen Triller, nach dem die Streicher wieder einsetzen und mit ihrem Thema den Satz beschließen. Lange vor den Solokadenzen eines Mozart und Beethoven hat Bach hier die ausgeschriebene Kadenz als integralen Bestandteil ins „Clavierkonzert“ eingeführt – auch dies ein Grund für die Popularität seines d-Moll-Cembalokonzerts als Klavierkonzert im 19. Jahrhundert.