Streichquartett G-Dur, op. 76,1; Hob. III: 75 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Joseph Haydn

Streichquartett G-Dur, op. 76,1; Hob. III: 75

Quartett G-Dur für zwei Violinen, Viola und Violoncello, op. 76,1; Hob. III: 75

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 862

Satzbezeichnungen

1. Allegro spiritoso

2. Adagio sostenuto

3. Menuet. Presto – Trio

4. Finale. Allegro ma non troppo

Erläuterungen

“Vor einigen Tagen war ich wieder bei Haydn.. Bei dieser Gelegenheit spielte er mir auf dem Clavier vor, Violinquartette, die ein Graf Erdödi für 100 Dukaten bei ihm bestellt hat und die erst nach einer gewissen Anzahl von Jahren gedruckt werden dürfen.” Nach diesem Bericht des schwedischen Musikfreundes F. P. Silverstope vom Juni 1797 könnte man vermuten, Haydn habe die sechs Streichquartette seines Opus 76, die man noch heute nach dem ungarischen Auftraggeber “Erdödy-Quartette” nennt, am Klavier konzipiert. In Wirklichkeit benutzte Haydn das Instrument nur zur Demonstration für den ausländischen Besucher, denn seit er in seinen Jugendtagen im Quartett des Edlen von Fürnberg zu Weinzierl in Oberösterreich mit dem Quartettspiuel begonnen hatte, verfüggte Haydn über viel zu viel eigene Erfahrung in diesem Metier, um auf das Klavier angewiesen zu sein. Er erfand seine Quartette ganz vom Streichinstrument aus!

Dies kann man in seinem G-Dur-Quartett, op. 76,1, gleich am Anfang hören. Erst erklingen drei Akkorde mit Doppelgriffen, sogenannte Coups d’archet, die man gerne als Aufwecker fürs Publikum an den Beginn einer Sinfonie stellte, dann singt jeder Streicher sein Liedchen vor sich hin, wie in einem Quodlibet für vier Singstimmen. Das sind ganz vom Instrumentz her erfundene Klänge ohne Anspruch auf abstarktes thematsiches Material. Dazu gesellt sich die Wiederholung der unschuldigen Melodie über einem Bordun, über einem jener volkstümlichen Dudelsack-Bässe also, die Haydn so gerne verwendete, um seine hehre Musik überraschend auf den Tanzboden zu zerren. In kaum 20 Takten sind damit schon drei Klangideen aneinandergereiht, die im folgenden des öfteren wiederkehren und durch neue bereichert werden. Wir hören Akkordbrechungen der ersten Geige, ein Unisono aller vier Stimmen, Sforzato-Akkorde und eine sanfte Melodie zu weicher Akkordbegleitung am Ende des ersten Teils. Das Ganze könnte wie ein Sammelsurium aus Klängen wirken, wäre da nicht Haydns unnachahmliche Kunst, ein motivisches Band zu knüpfen. Man kann den Hörern nur empfehlen, auch im zweiten Teil des Satzes, gewöhnlich Durchführung und Reprise genannt, dem Gang des Motivs aufmerksamst zu folgen, denn in einer Spontaneität, mit der der 65jährige Haydn jeden jungen Kollegen spielend in den Schatten stellte, wirft er sein Hauptmotiv erst in einen halben Kontrapunkt hinein, dann in Modulationen, schließlich in eine “falsche Reprise”, worauf der Kontrapunkt erst seine ganze Kraft entfaltet. “Spiritoso”, geistreich, ist dieses Allegro im wahrsten Sinne des Wortes.

Als eine Eigenart des Opus 76 ? der letzten sechsteiligen Serie von Streichquartetten, die Haydn vollendet hat ? gilt die Tiefgründigkeit der Adagios. Wie in den sechs späten Messen, die Haydn damals alljährlich für die Fürstin Esterházy schrieb (Paukenmesse, Nelsonmesse etc.), bilden diese feierlichen, von rührender Einfachheit durchdrungenen Sätze Ruhepunkte zwischen Allegro-Teilen von oft düsterer oder stürmisch-drängender Anlage ? so auch im G-Dur-Quartett. Das Adagio sostenuto ist ein schlichter vierstimmiger Gesang in C-Dur, eine Art Agnus Dei, das viermal wiederkehrt und von zunehmend drängender werdenden Dialogen zwischen erster Geige und Cello unterbrochen wird.

Die Unruhe dieser Zwischensätze setzt sich im nervös pulsierenden Scherzo (mit Geigensolo im Trio), vor allem aber im Mollfinale fort. Wenn Franz Schubert 1828, also 30 Jahre später, sein C-Dur-Streichquintett mit einem Rondo in Moll abschloss, so stammt die Idee zu dieser Umkehrung der üblichen Konventionen von Haydn, der sie in Opus 76,1 mit ähnlich dramatischem Effekt, wenn auch nicht in vergleichbarer Ausdehnung und romantischen Übersteigerung einsetzte. Freilich grenzen die harmonischen Überraschungen dieses Finales (mit Ausflügen von g-Moll nach Des-Dur, A-Dur und ähnlich weit entfernte Tonarten) schon hart an schubertsche Akkordrückungen, und auch der Drive des endlich erreichten Durchbruchs nach G-Dur am Ende des Satzes ist bereits ein Effekt, der für die Beethoven-Schubert-Zeit typisch werden sollte.