Streichquartett g- Moll, op. 74,3; Hob. III: 74 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Joseph Haydn

Streichquartett g- Moll, op. 74,3; Hob. III: 74

Quartett g-Moll für zwei Violinen, Viola und Violoncello, op. 74,3; Hob. III: 74, “Reiterquartett”

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 881

Satzbezeichnungen

1. Allegro

2. Largo assai

3. Menuetto (Allegretto)

4. Allegro con brio

Erläuterungen

Quartett g-Moll, op. 74, 3

„Quartetto 6to in g.minor“, „sechstes Quartett in g-Moll“ schrieb der sechzigjährige Haydn auf die Partitur seines Quartetts Opus 74 Nr. 3 und signierte es mit „di me Giuseppe Haydn 1793“. Mit diesem Werk beendete er seinen bedeutendsten Instrumentalzyklus zwischen den beiden Londoner Reisen: die sechs Streichquartette, die er 1793 in Wien komponierte und dem Grafen Anton Appónyi widmete, weshalb sie auch heute noch „Appónyi-Quartette“ genannt werden. Sie erschienen, wie es dem europäischen Ruhm des Komponisten entsprach, fast gleichzeitig in Wien und London, freilich erst 1795/96, nach dem Ablauf der üblichen zweijährigen Schutzfrist für den Widmungsträger. Im Gegensatz zum großen sechsteiligen Opus 76 verteilte sie Haydn auf zwei Hefte: die Opera 71 und 74. Dennoch gehören alle sechs Werke ganz zweifelsfrei zusammen.

Hätte man Haydn gefragt, welches der sechs Quartette er für das populärste halte, er wäre wohl kaum auf die Nr. 6 in g-Moll gekommen. Nach fünf heiteren, hellen und durchaus populären Quartetten gibt sich gerade dieses letzte schroff und abweisend. Wie so oft waren es eine bildliche Vorstellung und ein daraus resultierender Beiname, die dem Stück zu seinem unerwarteten Ruhm verhalfen: Dank des „galoppierenden“ Rhythmus’ seines Finales wurde es als „Reiterquartett“ weltberühmt.

Auch der Beginn trug nicht wenig zu der Vorstellung eines „Reiters“ bei: Mürrische Oktaven, verziert mit scharfen, kurzen Vorschlägen, eröffnen den ersten Satz – einer von Haydns prägnantesten Quartett-Anfängen. Nach wenigen Takten freilich geraten die Oktaven ins Stocken und machen Platz für einen melancholischen zweiten Gedanken. Auch dieser ist eine Haydnsche Finte, denn weder der schroffe Beginn noch der traurige Nachsatz drücken dem Satz ihren Stempel auf, sondern die Triolen, die sich in den zweiten Gedanken einschleichen. Sie durchziehen den Satz in mannigfaltigen Wandlungen. Im Seitenthema bilden sie die gut gelaunte Begleitung zu einer Volksweise. In der Durchführung stoßen sie auf die Oktaven des Anfangs – erwartungsgemäß eine heftige Kollision. Das melancholische Thema bringt die Wende zur Reprise, während das muntere Seitenthema die Brücke von g-Moll nach G-Dur baut. Der Satz schließt heiter elegant, ohne dass die Oktaven oder der schroffe Tonfall des Beginns noch einmal wiedergekehrt wären.

Selige Ruhe strahlt das folgende Largo assai aus. Es steht in der terzverwandten Tonart E-Dur und bringt außer einem gemächlich sich entfaltenden Thema bald schon seltsame harmonische Ausweichungen. Bei der ersten Londoner Aufführung 1794 sorgten diese überraschend eintretenden, fremdartigen Akkorde für eine Sensation. Im Moll-Mittelteil nimmt die Musik dann fast schon die harmonische Farbigkeit und Tragik Schubertscher Quartettsätze vorweg. Danach kehrt der Hauptteil melodisch verziert wieder. Eine Tremolo-Passage kurz vor Schluss legt nahe, dass Haydn sich auch in diesem Satz wie so oft von einer bildlichen Vorstellung leiten ließ, vielleicht von der Erscheinung eines guten Geistes, wie er sie in seinem englischen „Geisterlied“ („A spirit’s song“) geschildert hat.

Der dritte Satz gehört zu jenen Menuetten Haydns, die schon den Charakter eines Scherzos annehmen – dank der ständigen absteigenden Tonleitern und der Spiccato-Achtel in allen Stimmen. Das Trio kehrt zum melancholischen g-Moll des Kopfsatzes zurück.

Mit dem wilden Finale hat Haydn diesem durchaus bizarren Quartett die Krone aufgesetzt. Das „galoppierende“ Hauptthema in g-Moll hat er angeblich einem Reiter abgelauscht, der zufällig an seinem Fenster vorbei galoppierte. Der prägnante, gleichsam atemlose Rhythmus stehen im totalen Kontrast zum Seitenthema, das eine Melodie unschuldig vor sich hin zu pfeifen scheint. Der Konflikt der beiden Themen strebt nach einer Lösung, zu der es aber nicht kommt. Denn in der Durchführung hat sich Haydn ausschließlich mit Hauptthema beschäftigt: Es wird plötzlich unterbrochen, auf einer höheren Stufe weitergeführt, dramatisch aufgebauscht. Umso unschuldiger klingt danach wieder das Seitenthema. Es bleibt am Ende des Quartetts Sieger. Strahlendes G-Dur verdrängt endgültig das missmutige g-Moll – eine deutliche Botschaft des altersweisen Compositeurs an seine Zuhörer.

Haydns Quartette für einen ungarischen Grafen

Als der schwedische Musikliebhaber F. S. Silverstope im Juni 1797 den alten Haydn in Wien aufsuchte, wartete eine angenehme Überraschung auf ihn: „Bei dieser Gelegenheit spielte er mir auf dem Clavier vor, Violinquartette, die ein Graf Erdödy für 100 Dukaten bei ihm bestellt hat und die erst nach einer gewissen Anzahl von Jahren gedruckt werden dürfen.“ Es handelte sich um ein gerade erst vollendetes Opus von sechs neuen „Violinquartetten“, sprich: Streichquartetten, die als Haydns „Erdödy-Quartette“ in die Geschichte eingehen sollten. Tatsächlich wurden sie erst nach Ablauf der obligatorischen Exklusivfrist für den adligen Auftraggeber aus Ungarn gedruckt: 1799 erschienen sie als Haydns Opus 76. In rascher Folge warfen sie die Verleger der europäischen Metropolen auf den Notenmarkt: Artaria in Wien, Sieber in Paris, Bland in London, Hummel in Amsterdam und Berlin. Der alte Haydn war zu einem wahrhaft europäischen Komponisten geworden, um dessen neue Werke sich die Verleger rissen –über alle politischen Grenzen hinweg, die damals bekanntlich Fronten eines erbitterten Krieges um die Zukunft Europas waren.

Bekannter als unter ihrem Sammelnamen „Erdödyquartette“ wurden zwei Werke des Opus unter ihren populären Beinamen: die Nr. 3 in C-Dur als „Kaiserquartett“, benannt nach der dort variierten Kaiserhymne, und die Nr. 2 als „Quintenquartett“, weil die Quint den Themen dieses durchaus herben d-Moll-Quartetts einen rustikalen Anstrich verleiht.

Als Eigenart dieser letzten sechsteiligen Serie von Streichquartetten, die Haydn vollendete, gilt einerseits die quasi-sinfonische Anlage der schnellen Sätze, andererseits die Tiefgründigkeit der Adagios. Der Geist der Überraschung, der Witz im Sinne des 18. Jahrhunderts, den Haydn in seinen Londoner Sinfonien im sinfonischen Metier ausgekostet hatte, wird hier mit letzter Konsequenz und in breitesten Formen auf das Quartett übertragen. In London hatte Haydn erlebt, wie seine Streichquartette im Sinfoniekonzert gespielt wurden, also für ein breites Publikum, nicht mehr nur für Kenner. Diese Erfahrung wirkte zurück auf die populären Effekte in seinen neuen Quartetten. Die Tiefgründigkeit im Adagio wie auch der Ernst manches Allegro hängt mit der bedrückenden Erfahrung der Revolutionskriege zusammen, die Haydn damals auch in seinen sechs späten Messen (Paukenmesse, Nelsonmesse) verarbeitete.