Streichquartett Nr. 1 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Charles Ives

Streichquartett Nr. 1

Quartett Nr. 1 für zwei Violinen, Viola und Violoncello

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 1033

Satzbezeichnungen

1. Andante con moto

2. Allegro

3. Adagio cantabile – Allegretto – Andante con moto – Adagio cantabile

4. Allegro marziale

Erläuterungen

Der Nestor der Neuen Musik Nordamerikas war Komponist nur im Nebenberuf: Im bürgerlichen Leben war er als Versicherungsagent tätig, der nur am Feierabend und an den Wochenenden Zeit zum Komponieren fand. Dabei hatte der in Danbury, Connecticut, geborene Charles schon von seinem Vater, einem ehemaligen „Bandmaster“ in der Nordstaaten-Armee, eine gründliche musikalische Ausbildung erhalten. Von ihm erbte er auch die Neigung zum Experimentieren, z. B. mit Collagetechniken und Polytonalität, die seine Musik auszeichnen. So begann der junge Charles schon mit 12 zu komponieren und in der Band seines Vaters Schlagzeug zu spielen , mit 14 war er der jüngste bezahlte Organist im Bundesstaat. Sein Studium an der Yale University 1894-98 brachte ihn in Kontakt mit der akademischen Musiktheorie, die er rundheraus ablehnte. An den Tadel seines alten Lehrers an Yale, Horatio Parker, „Ives, müssen sie den alle Tonarten gleichzeitig benutzen?“ erinnerte sich noch der 75jährige mit Stolz und Begeisterung. Aus dieser Haltung des frühen Experimentellen ist auch sein 1. Streichquartett zu verstehen.
Ives gab für die Entstehung seiner vier Sätze das Jahr 1896 an. „Diese Angabe bezieht sich jedoch auf deren Einrichtung und Zusammenstellung zu einem Gesamtwerk – der 1. Satz war ursprünglich eine Studienarbeit, die drei übrigen waren für Ives’eigenen Organistengebrauch komponiert“ (Ulrich Maske). Aus dieser Entstehungsgeschichte erklärt sich die auffälligste Besonderheit des Werkes: seine Anlehnung an amerikanische Kirchenlieder. Der 1. Satz ist eine Doppelfuge über Coronation von Oliver Holden („All hail the power“, 1793) und die Missionary Hymn „From Greenlands icy mountains“ von Lowell Mason (1824). Der 3. Satz verarbeitet ebenfalls ausführlich den Sinners Call von John Wyeth („Come, thou fount of every blessing“), während der 4. Satz das Lied Stand up, stand up for Jesus zitiert. Für den deutschen Hörer, der mit diesen Melodien nicht vertraut ist, geht der Bezug zum Gottesdienst der Gemeinden in Neu-England natürlich verloren und damit auch die eigenwillige Note, die der junge Ives aus seiner Orgelpraxis heraus in die Gattung des Streichquartetts einführte. Zunächst hatte er dem Werk sogar ein geschlossenes liturgisches Programm zugrundegelegt. Er nannte es A Revival Service, einen Erweckungsgottesdienst, und wies jedem der vier Sätze eine liturgische Funktion zu: Chorale (Andante con moto) Prelude (Allegro) Offertory (Adagio cantabile) Postlude (Allegro marziale)
Später verzichtete er auf diese konkreten Hinweise und reduzierte die Satzfiolge auf drei Sätze, nachdem er die einleitende Doppelfuge orchestriert und in seine 4. Sinfonie übernommen hatte. Die Formen der Sätze sind abgesehen von der Fuge dreiteilig; sie folgen den Klischees von Marsch, Adagio und wieder Marsch. „Im groben ist die Form dieser Sätze klar und einfach, im einzelnen differenziert; sie beginnen je mit einer Periode als thematisch-motivischer Materialexposition – im 3. und 4. Satz mit Fragmenten geistlicher Lieder -, doch wird diese alsbald durchführungsartig oder improvisierend verlassen“ (Maske). Daran schließen sich kontrastierende Mittelteile an.

Soweit zur formalen Bestandsaufnahme des Quartetts. Seinen Stil zwischen religiöser Aura und Experiment einordnen zu wollen, wäre müßig, getreu Ives‘ Grundsatz: „Vielleicht ist Musik gar nicht dazu da, dem seltsamen Drang des Menschen nach Klarheit zu genügen. Vielleicht ist es richtiger zu hoffen, daß Musik immer eine transzendierende Sprache im maßlosesten Sinne des Wortes sein möge.“