"Kreisleriana", op. 16 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Robert Schumann

"Kreisleriana", op. 16

„Kreisleriana“, Fantasien für Piano-Forte, op. 16

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 3871

Satzbezeichnungen

1. Äusserst bewegt

2. Sehr innig

3. Sehr aufgereft

4. Sehr langsam

5. Sehr lebhaft

6. Sehr langsam

7. Sehr rasch

8. Schnell und spielend

Erläuterungen

2000
ROBERT SCHUMANN:
Kreisleriana, op. 16

„Da gibt’s zu denken dabei“, prophezeite Robert Schumann, als er am 16. April 1838 die Fertigstellung seiner Kreisleriana meldete. Er sollte Recht behalten. Generationen von Musikern und Musikwissenschaftlern haben sich den Kopf über den Sinn des Titels zerbrochen. Schumann meinte, er sei „nur von Deutschen“ zu verstehen, denn der „exzentrische, wilde und geistreiche Kapellmeister“ Johannes Kreisler war eine literarische Figur von E. T. A. Hoffmann, die nur in Deutschland und auch dort nur in der Hochromantik einige Berühmtheit erlangte. Schon 1909 meinte Carl Reinecke von den Kreisleriana: „Dieser Titel war damals gar vielen ein Rätsel, und ist’s heutzutage vielleicht in noch höherem Grade, weil in der Gegenwart die phantastischen Dichtungen des E. T. A. Hoffmann kaum noch gelesen werden. Dieser hat nämlich in seinen Phantasiestücken die originelle Gestalt des unglücklichen Kapellmeisters Johannes Kreisler geschaffen, welcher nur in Johann Sebastian Bach und in seinem eigensten Innern lebt“. In welcher Beziehung stehen Schumanns „Fantasien für Piano-Forte“ zu Kreisler?

Als literarische Vorlagen boten sich dem Komponisten zwei Bücher Hoffmanns an: die Lebensansichten des Katers Murr, in die „in zufälligen Makulaturblättern“ Fetzen aus einer Vita des Johannes Kreisler eingestreut sind, und der Zyklus der eigentlichen Kreisleriana. Letztere bestehen aus sechs völlig heterogenen Texten, teils erzählender, teils ästhetischer bzw. analytischer Natur, die sich als Programm für einen Klavierzyklus ebensowenig eigneten wie die verstreuten Informationen aus dem Kater Murr. So kann Schumann nur die Gestalt Kreislers als solche im Sinn gehabt haben. Welcher Aspekt reizte ihn an Kreisler?

Schumanns erster Biograph Wasielewski glaubte, die Liebe. Er sah den Grund für Schumanns Titel in den „mannigfaltigen Regungen des Liebeswehs, welches damals seine Seele durchzitterte“, und verstand Kreisleriana im Sinne von „Wertheriana“ als Ausdruck für Schumanns Sehnsucht nach der Verbindung mit Clara, die 1838 noch immer ungewiss war. Obwohl Schumann dies scheinbar selbst unterstrichen hat ? „eine recht ordentliche wilde Liebe liegt darin“ ?, kann dies als Erklärung für den Zyklus kaum ausreichen.

1834 hatte Schumann in Leipzig Hoffmanns Vorbild für die Kreisler-Gestalt, den Komponisten Ludwig Böhner (1787-1860), kennengelernt. „Sie wissen, dass er seiner Zeit so berühmt wie Beethoven war und dem Hofmann als Original zu dessen Kapellmeister Kreißler saß… Vorgestern phantasierte er ein paar Stunden bei mir; die alten Blitze schlugen hier und da hervor, sonst ist aber Alles dunkel und öde… Hätte ich Zeit, so möcht‘ ich einmal Böhnerianen schreiben, zu denen er mir selbst den Stoff gab.“ Aus diesem Artikel über Böhner wurde vier Jahre später der Klavierzyklus, aus den „Böhneriana“ wurden die „Kreisleriana“.

Die unbändige Fantastik des Pianisten und die Überspanntheit des Komponisten, der den Erwartungen des Publikums spottete, mögen Schumann an Kreisler alias Böhner fasziniert haben. Vom Pianisten Kreisler nahm der Zyklus seinen Ausgang. So hat es Carl Reinecke gesehen, der meinte, Schumann habe die acht Fantasien Kreisler „gleichsam als dessen Improvisationen untergeschoben.“ Für diese Sichtweise bietet der Zyklus einen Anhaltspunkt, den Reinecke selbst benannt hat: die Anlehnung an die Musik Johann Sebastian Bachs.

Im ersten Stück des literarischen Zyklus Kreisleriana schildert Hoffmann die „musikalischen Leiden“, die Kreisler auf einem musikalischen Tee im Hause des Geheimen Rates Röderlein auszustehen hat. Sie enden damit, dass man von ihm verlangt, Bachs Goldbergvariationen zu spielen, in der Meinung, es seien „so Variatiönchen“. Als sich herausstellt, worum es sich eigentlich handelt, verlassen die Gäste nacheinander den Saal, bis Kreisler am Ende mit Punsch und Bach alleinbleibt. In diesem Moment beginnt er, vom Furor gepackt, wilde Improvisationen über Bachs Thema: „Ich hätte glücklich geendet, aber diese Nro. 30, das Thema, riss mich unaufhaltsam fort. Die Quartblätter dehnten sich plötzlich aus zu einem Riesenfolio, wo tausend Imitationen und Ausführungen jenes Themas geschrieben standen, die ich abspielen mußte. Die Noten wurden lebendig und flimmerten und hüpften um mich her – elektrisches Feuer fuhr durch die Fingerspitzen in die Tasten – der Geist, von dem es ausströmte, überflügelte die Gedanken.“ Keine bessere Beschreibung könnte für den Anfang von Schumanns Zyklus gefunden werden.

In Nr. 1 fährt die rasende Triolenbewegung der rechten Hand „wie elektrisches Feuer“ in die Tasten, die linke Hand schlägt im Rhythmus nach, weil „der Geist die Gedanken überflügelt“. Auch die Triolenfiguren dieses ersten Stückes stammen aus der 29. Variation von Bachs Goldbergvariationen, was besonders im Mittelteil deutlich wird.

In Nr. 2 beruhigt sich der wilde Ingrimm Kreislers zu einem träumerischen Bild, dessen schöner melodischer Bogen wie ein Refrain immer wiederkehrt. Eingeschoben sind zwei Intermezzi, von denen das zweite wieder an Bach anknüpft, an die 17. Variation der Goldbergvariationen. Auch die anderen Sätze der Kreisleriana zeigen unverkennbare Analogien zu Klavierwerken Bachs: Nr. 4 zur Chromatischen Fantasie, Nr. 5 zu zwei Kontrapunkten aus der Kunst der Fuge und das Fugato in Nr. 7 zur C-Dur-Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier II. Außerdem stehen die meisten Sätze der Kreisleriana in g-Moll und damit in einer der beiden Grundtonarten der Goldbergvariationen. Man kann deshalb in ihnen jene neuen Variationen sehen, die Kreisler improvisiert, während sich ihm die Handschrift „zum Riesenfolio“ dehnt.

Außer dieser „Dehnung“ des bachischen Genius in die Welt der Romantik hinein zeugt der Zyklus vom zerrissenen Wesen Kreislers. Im Kater Murr heißt es: „Gegenwärtiger Biograph ist leider genötigt, seinen Helden, soll das Porträt richtig sein, als einen extravaganten Menschen darzustellen, der, vorzüglich, was die musikalische Begeisterung betrifft, oft dem ruhigen Beobachter beinahe wie ein Wahnsinniger erscheint“. Dies erklärt den Aufbau des achtteiligen Zyklus, seine unstete, vom einen ins andere Extrem verfallende Rhetorik.

Nach den beiden Eingangssätzen ist Nr. 3 mit der charakteristischen Vortragsanweisung Sehr aufgeregt ein von rhythmischen Widerhaken zerfurchtes Gebilde, Nr. 4 ein im Dämmerzustand verharrendes, flegmatisches Adagio, Nr. 5 ein fantastischer Tanz, Nr. 6 ein melodisch besonders schöner Gesang im Siciliano-Rhythmus, Nr. 7 Höhepunkt der fiebrigen Aufgeregtheit Kreislers. Am Ende, im 8. Stück, hat Schumann sogar Kreislers seltsames Verschwinden abgebildet, wie es in den Kreisleriana beschrieben wird: „Auf einmal war er, man wusste nicht wie und warum, verschwunden. Viele behaupten, Spuren des Wahnsinns an ihm bemerkt zu haben, und wirklich hatte man ihn mit zwei übereinander gestülpten Hüten und zwei Rastralen, wie Dolche in den roten Leibgürtel gesteckt, lustig singend zum Tore hinaushüpfen sehen…“ Die ständig nachschlagenden Figuren des letzten Stücks mögen ein Abbild des hüpfenden Kreisler sein, die Volksliedmelodie für seinen Gesang und der verklingende Schluss für sein plötzliches Verschwinden stehen. Doch sind dies nur vage Möglichkeiten, einen Klavierzyklus tonmalerisch zu deuten, der sich auf der subtilsten Ebene psychologisch-poetischer Umsetzung der dichterischen Vorlage bewegt.

Paula und Walther Rehberg deuteten diese psychologisierende Umsetzung der Kreisler-Figur auf Schumanns eigene Psyche um: „Eigene Herzensstürme also, aber auch sein sonstiges, weitgespanntes und mit den Grenzen des Erträglichen nicht immer vereinbarliches inneres Erleben, fanden in seinen Kreisleriana Niederschlag.“ Der Satz verweist auf Schumanns Selbstverständnis: Er sah sich als Vorreiter eines Kunstbegriffs, der die Fesseln des angenehmen Musikgenusses sprengte und ins „romantische Geisterreich“ vordrang, bedroht von der ständigen Gefahr, dabei den Wahnsinn zu streifen.
Auch darin hat ihm Kreisler als Modell gedient. Im Kater Murr verhöhnt Kreisler die Erwartungshaltung des Publikums: „Ja! gnädigste Prinzessin! – ja, ich! – aller Kapellmeister hienieden unseligster, ich habe schändlich gefrevelt mit dem entsetzlichen Duett, das wie ein höllisches Feuerwerk mit allerlei Leuchtkugeln, Schwanzraketen, Schwärmern und Kanonenschlägen durch die ganze Gesellschaft gefahren ist, und leider merk ich’s, fast überall gezündet hat! – Ha! – Feuer – Feuer – Mordio! – es brennt – Spritzenhaus auf – Wasser – Wasser – Hülfe rettet!“ Schumanns Kreisleriana sind diesem Geist der Provokation verpflichtet, einem Humor, in dem die Musik „in dem mannigfaltigsten Muskelspiel vibriert“, wie es bei Hoffmann von Kreislers Gesicht heißt.

Karl Böhmer